"Es sind natürlich die ganzen alten Kräfte noch da"

23.02.2012
Herta Däubler-Gmelin (SPD) hat die Bedeutung der neuen Verfassung für die weitere Entwicklung in Tunesien hervorgehoben. Bei ihrer derzeitigen Tätigkeit als politische Beraterin in Tunis erlebt die frühere Bundesjustizministerin immer wieder eine große gesellschaftliche Unsicherheit.
Gabi Wuttke: Nach Tunesien kam der Frühling im vergangenen Jahr zuerst. Spätestens im kommenden Jahr soll es eine neue Verfassung für ein freies Land geben. Dominiert wird die Verfassungsgebende Versammlung von der Ennada-Partei, was auch hierzulande Sorgenfalten fabriziert. Die Sozialdemokratin Herta Däubler-Gmelin, ehemalige Bundesjustizministerin, ist derzeit einmal mehr in Tunesien, um mit ihrem Wissen zu beraten im Gespräch mit Politikern, Anwälten, Journalisten, Frauenaktivistinnen. Um 7:49 Uhr ist sie am Telefon – guten Morgen, Frau Däubler-Gmelin!

Herta Däubler-Gmelin: Guten Morgen!

Wuttke: Ob in Ägypten die alten Machtstrukturen abgeschafft werden können, weiß derzeit niemand, wohin Libyen geht, genau so wenig. Tunesien ist die große Hoffnung. Ist diese Hoffnung für Sie berechtigt?

Däubler-Gmelin: Ja, ganz sicher. Aber wissen Sie, von selber passiert gar nichts, sondern es sind natürlich die ganzen alten Kräfte noch da. Das heißt, die Auseinandersetzung auch hier in Tunesien geht weiter – und muss weitergehen –, sie ist Gott sei Dank nur nicht gewaltsam, aber dass da noch sehr viel geschehen muss, ist auch keine Frage.

Wuttke: Alte Kräfte – meinen Sie damit auch die Ennada-Partei, obwohl sie vor dem Sturz von Ben Ali verboten war?

Däubler-Gmelin: Ja, schauen Sie, das ist ja gerade – sagen wir mal – etwas anders, als man das manchmal denkt. Unter alten Kräften meine ich zum Beispiel, dass in der Polizei oder in den Verwaltungen oder auch in den Gerichten noch die Leute sitzen, die da auch schon unter Ben Ali gesessen haben und die auch unter Ben Ali gearbeitet haben. Bei Ennada ist es so, die war unter Ben Ali verfolgt, die wurde jetzt gewählt, und sie gilt natürlich als Partei, die im Islam eine politische Aufgabe sieht. Es ist nur mit Ennada wahrscheinlich auch gar nicht so einfach, weil es da ganz unterschiedliche Kräfte gibt. Es gibt solche, die sagen, das, was in der Revolution erreicht wurde, muss auf jeden Fall gehalten und gesichert werden, und es gibt solche, die gerade bei den Prüffragen Freiheiten, Frauen oder auch Frage Scharia, eher etwas weicher denkt. Die Auseinandersetzung innerhalb der Scharia und innerhalb jetzt auch der Verfassungsgebenden Versammlung ist die, was gelingt da, was wird stärker.

Wuttke: Das heißt, wenn hierzulande die Ennada mal als islamische und mal als islamistische Partei verstanden wird, dann ist das im Grunde nicht falsch.

Däubler-Gmelin: Es ist halt ungenau, und es lässt sehr viel Spielraum für die Vorstellung dessen, der das sagt, es ist sicherlich eine eher konservative Partei. Aber ob es jetzt eine Partei ist, die islamistisch in dem Sinne ist, dass man einen Gottesstaat errichten wolle – wie das es ja auch gibt im Bereich der islamischen Länder –, das bezweifle ich sehr stark.

Wuttke: Was …

Däubler-Gmelin: So ist es im Moment nicht.

Wuttke: Was haben Sie denn in Ihren bisherigen Gesprächen bei dem derzeitigen Aufenthalt in Tunis von Ihrem Gesprächspartner erfahren? Wie gedenken sie denn mit diesen alten Kräften umzugehen? Wir sehen, was in Ägypten derzeit passiert.

Däubler-Gmelin: Also zunächst ist es natürlich so, dass die Leute, die hier sich bemühen, eine stabile Demokratie nach der Revolution hinzubekommen. Da gehören auch die Verantwortlichen der Ennada-Partei dazu, dass die sich darum bemühen, dass erst mal die Erwartungen der jüngeren Leute an Stabilität, an Zukunft, an Ausbildungen, an Arbeitsplätze erfüllt werden können. Und das ist, glaube ich, eine ganz, ganz wichtige Sache, und um das zu erreichen, versuchen sie, eine klare Grundlage hinzubekommen, die im Land die Richtung vorgibt, nämlich dass das, dass der Acquis der Revolution erhalten wird, wie man hier so schön sagt, und zum Zweiten auch für das Ausland Sicherheit dargestellt wird, dass die Touristen in dieses herrliche Land wiederkommen, das so viel zu bieten hat, oder auch Wirtschaftsinvestoren kommen, damit die Erwartungen erfüllt werden können. Und ansonsten ist es hier natürlich so, Sie haben ja gelesen, da ist ein Herausgeber im Augenblick ins Gefängnis gesperrt worden, weil er ein Foto von Khedira und seiner Freundin gebracht hat, und die Freundin war oben ohne. Das ist natürlich ein Riesenskandal hier, darüber regt sich nicht nur die deutsche Bundesregierung zu Recht auf und rügt das oder wir hier, sondern das regt die Leute hier auf, und es ist sehr spannend zu sehen, ob er heute von dem Richter aus der Haft entlassen wird.

Wuttke: Aber auch in Deutschland würde man sich über dieses Foto durchaus aufregen.

Däubler-Gmelin: Ja, gut, aber auf der anderen Seite ist das kein Haftgrund, verstehen Sie? Sie können einfach nicht jemand, wenn Sie der Auffassung sind, er würde als Journalist die Grenze zur Verletzung der öffentlichen Ordnung – würde er verletzen, den können Sie nicht ins Gefängnis sperren. Das ist ja der berühmte Fall "Sünderin", den wir Anfang der 50er-Jahre haben, und das geht hier halt auch nicht, weil die rechtlichen Grundlagen und das, was die Revolution wollte, das ist nicht erlaubt, aber der Richter hat es trotzdem gemacht. Und jetzt ist die Frage, jetzt haben sich alle aus der Politik von dem Richter distanziert, wie der sich heute entscheidet. Diese Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die gibt es hier überall.

Wuttke: Das heißt aber auch, dass religiös-kulturelle Vorgaben durchaus das Fortkommen der Demokratie mitbestimmen im Hinblick auf das, was Sie gerade gesagt haben, nämlich klare Angaben für die Zukunft. Auf welcher Grundlage werden sie denn derzeit getroffen?

Däubler-Gmelin: Ja, nun, schauen Sie, es ist so, dass die Vorschläge für eine Verfassung ganz klar sagen, dafür, wofür wir in der Revolution gekämpft haben, das heißt Freiheit, Demokratie, dass die Frauen ihre Rechte haben, freie Presse, klare Ansagen, das muss in der Verfassung erhalten sein. Und das sagen Ihnen übrigens die handelnden Personen durchweg, durch alle Parteien, die in der Verfassungsgebenden Versammlung vorhanden sind. Aber dennoch gibt es natürlich die Sorge der Frauen, dass sie wieder mal das kürzere Ende der Wurst kriegen oder die Sorge, die wir jetzt gerade im Bezug auf die Pressefreiheit gesehen haben. Diese gesellschaftliche Unsicherheit ist noch vorhanden, und deswegen ist es wichtig, dass diese Verfassung jetzt relativ schnell kommt. Die Verantwortlichen sehen das übrigens.

Wuttke: Also es gibt noch eine Verunsicherung, es gibt natürlich aber auch noch einige Monate Zeit, um diese Verfassung tatsächlich abschließend zu bearbeiten. Das westliche Ausland hält sich ja nicht nur während dieser Verhandlung über eine Verfassung mit den Füßen unter dem Tisch ziemlich ruhig. Ihr Engagement, Frau Däubler-Gmelin, läuft über das Bundesentwicklungsministerium. Reicht das, nachdem Ben Ali jahrelang hofiert wurde?

Däubler-Gmelin: Es gibt hier sehr viele, die sich engagieren – gerade auch die politischen Stiftungen. Nur lassen Sie es uns sehr deutlich sagen, es ist auch wichtig, dass jetzt nicht mit falschen Anschuldigungen nach Tunis geguckt wird. Man muss sehr aufmerksam registrieren, was passiert, und in solchen Fällen wie der Veröffentlichung dieses Fotos und der Haft hat ja auch der Regierungssprecher reagiert. Es ist alles sehr gut, aber ansonsten kann ich nur empfehlen, dass man auch sieht, dass es hier vorangeht, und dass man auch zum Beispiel Touristikunternehmen durchaus ermutigt, in dieses Land zu kommen. Das kann man hier auch, und das Land ist wunderschön und die Menschen brauchen es.

Wuttke: Herta Däubler-Gmelin wirbt für Tunesien im Interview der Ortszeit von Deutschlandradio Kultur. Die ehemalige Bundesjustizministerin steht in Tunesien beratend zur Seite. Frau Däubler-Gmelin, besten Dank und schönen Tag in Tunis!

Däubler-Gmelin: Danke sehr, Ihnen auch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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