"Es lebe das geheime Deutschland!"

Vorgestellt von Andreas Möller · 26.08.2007
Es gibt nur wenige andere deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, die eine vergleichbare Wirkung entfaltet haben wie der im Dezember 1933 gestorbene Stefan George. Der nationalsozialistische Staat hatte ihm in diesem Jahr die Präsidentschaft einer neuen Akademie für Dichtung angetragen, was George dankend ablehnte. Nur fünf Jahre zuvor war sein letzter Gedichtband mit dem vieldeutigen Titel "Das neue Reich" erschienen.
Die Rezeption von Georges Werk, das aus einem knappen Dutzend Gedichtbänden sowie Übertragungen Shakespeares, Dantes, Baudelaires und anderer Ikonen der Weltliteratur besteht, schwankt bis heute zwischen Enthusiasmus und vehementer Kritik. Der Grund dafür ist weniger in seiner Dichtung zu suchen – sie hat vor allem mit Georges Selbststilisierung als Seher und Verkünder eines neuen Kunstzeitalters zu tun, der Gleichgesinnte wie Mitglieder einer Sekte um sich scharrte.

"Des Sehers wort ist wenigen gemeinsam:","

heißt es in Georges Gedichtband "Das Jahr der Seele" aus dem Jahr 1897, der seinen entscheidenden Durchbruch bedeutete:

""Schon als die ersten kühnen wünsche kamen
In einem seltnen reiche ernst und einsam
Erfand er für die Dinge eigne namen –."

Nun ist die erste zusammenhängende Biografie über Stefan George erschienen. Verfasst hat das in seiner Kompaktheit und gedanklichen Schärfe beeindruckende Buch Thomas Karlauf.

Bereits der Untertitel des Buches, "Die Entdeckung des Charisma", deutet es an: Karlauf versucht George als charismatischen Verführer zu ergründen, der wie kein zweiter die Einheit von Kunst und Leben zelebrierte und diese auch von seinen Getreuen forderte.

Konkret bedeutete das den Verzicht auf familiäres Glück. George, schreibt Karlauf, war ein "Magier und Menschenfänger", der das "Bild der unumschränkten Herrschaft im Reich des Absoluten" schuf:
"Er suchte Gefährten, und das hieß für ihn: Menschen, für die der Glaube an die reine Kunst einherging mit dem Glauben an ihn, Stefan George. Die Überzeugung, dass durch ihn die neue Dichtung repräsentiert werde, gab seinem Auftreten die nötige Sicherheit. Der Weg zur neuen Kunst – so vermittelte er es – führte ausschließlich über ihn."

So ist unter seinen Jüngern, die 1933 am Grab von George Totenwache halten, auch Claus Schenk von Stauffenberg. Elf Jahre später, unmittelbar vor seiner Hinrichtung in der Nacht des 20. Juli 1944, soll dieser in Anlehnung an einen Gedichttitel Georges den Satz "Es lebe das geheime Deutschland!" ausgerufen haben. Darüber hinaus ist überliefert, dass Stauffenberg mehr als einmal Georges Gedicht "Der Widerchrist" zitierte, in dem es heißt:

"‚Dort kommt er vom berge dort steht er im hain!
Wir sahen es selber er wandelt in wein
Das Wasser und spricht mit den toten.’ […]

Der Fürst des Geziefers verbreitet sein reich
Kein schatz der ihm mangelt kein glück das ihm weicht
Zu grund mit dem rest der empörer!"

Wer will, kann darin eine Warnung lesen, wenngleich George alles, nur nicht Realpolitik im Sinne hatte. Er bewunderte Napoleon für dessen Tatendrang und verachtete Otto von Bismarck als Pragmatiker. Gleichsam wurde George von seinen Anhängern auch für seine politischen Deutungen wie ein Prophet verehrt.

Die von Karlauf thematisierte Verbindung zwischen George und Stauffenberg ist indes nicht neu. Von Peter Hoffmann über die amerikanischen Enthüllungsautoren Michael Baigent und Richard Leigh bis zu Joachim Fests "Staatsstreich" ist sie untersucht worden.

Auch nach der Lektüre von Karlaufs Buch ist nur zu mutmaßen, welchen Einfluss George auf das Denken Stauffenbergs ausübte. Gleiches gilt für die Wirkung, die George auf die Nationalsozialisten entfaltete, die in ihm eine Symbolfigur der antimodernistischen Kunst erkannten. Dank des Buches dürfte über Zusammenhänge wie diese jedoch erneut diskutiert werden.

Fest steht, dass sich George den Anbiederungsversuchen der Macht in seinem letzten Lebensjahr entzog. Dafür mag es viele Gründe gegeben haben - nicht zuletzt solche, die mit seinem Lebensstil zusammenhingen. Dennoch wirkt seine Haltung, die das individuelle Schicksal dem Glauben an ein übergeordnetes Ideal unterwarf, wie eine Analogie der historischen Entwicklung.

Georges Aura, die von Zeitgenossen als dämonisch beschrieben wird, und seine weihevolle Dichtung begeisterten auch Berthold und Claus von Stauffenberg. Insofern können dessen vermeintliche letzte Worte "Es lebe das geheime Deutschland!" – wie sie von einem Augenzeugen überliefert sind – für bare Münze genommen werden. Stauffenberg zog seine Überzeugung und seinen Mut aus einem geistigen Erbe, das er für uneinnehmbar durch den Nationalsozialismus hielt.

"In letzter Konsequenz erweist sich der Opfergang als die unausweichliche Folge der überzogenen Heilserwartungen von einst. Zwei Wochen vor dem Attentat hatten Claus und Berthold einen ‚Schwur’ aufgesetzt, um den kleinen Kreis der Verschwörer auf gemeinsame Werte zu verpflichten."

Das Bekenntnis zur Päderastie, das Karlauf ebenso selbstverständlich behandelt wie andere Seiten von Georges Persönlichkeit, mag für Manchen eine Überraschung des Buches mit Potenzial zum Skandalösen sein. Doch sind es weniger die Enthüllungen, die Karlaufs brillante Darstellung ausmachen, sondern die Art und Weise, mit denen Karlauf lebens-, werk- und zeitgeschichtliche Zusammenhänge zu einem Panorama verknüpft.

Die eigentliche Bedeutung des Buches, das einen Meilenstein der biografischen Literatur in diesem Jahr markiert, liegt in der Wahl seines Themas. Denn das ungewöhnliche Interesse, das George dieser Tage erfährt, hat nichts mit der Wiederentdeckung eines begnadeten Lyrikers zu tun: Es offenbart die Auseinandersetzung mit dem Phänomen charismatischer Größe - heute nicht anders als am Vorabend des Dritten Reiches.

Thomas Karlauf: Stefan George - Die Entdeckung des Charisma
Karl Blessing Verlag, München 2007
Thomas Karlauf: Stefan George - Die Entdeckung des Charisma
Thomas Karlauf: Stefan George© Karl Blessing Verlag