"Es kommt offenbar vor, dass Studien nicht publiziert werden"

Karl Heinz Rahn im Gespräch mit Alexandra Mangel · 13.07.2011
Der Präsident der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, Karl Heinz Rahn, will den Einfluss der Firmen-Sponsoren auf die Publikation von medizinischen Studien einschränken. Medizinische Studien von Firmen und öffentlichen Instituten gemeinsam finanzieren zu lassen, hält er für einen Teil der Lösung.
Alexandra Mangel: Schwere Vorwürfe hat in der letzten Woche hier im "Radiofeuilleton" der Politikpsychologie Thomas Kliche erhoben, und zwar gegen die forschenden Mediziner in Deutschland: Systematisch würde sich ein großer Teil der Ärzte bei der wissenschaftlichen Arbeit von der Pharmaindustrie sponsern und beeinflussen lassen; ganze Forschungsfelder der Medizin würden heute über die Drittmittelfinanzierung von Stellen, Studien und Instituten gesteuert und manipuliert. Organisiert sind die forschenden Ärzte in Deutschland in Fachgesellschaften, und die sind wiederum in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften zusammengeschlossen, und mit deren Präsident, mit Karl Heinz Rahn, bin ich jetzt verbunden. Herzlich Willkommen, Herr Rahn!

Karl Heinz Rahn: Guten Tag, Frau Mangel!

Mangel: Wir wollen gleich ins Gespräch kommen, vorher hören wir aber, wie Thomas Kliche die Situation letzte Woche hier im Programm geschildert hat.

Thomas Kliche: Da gibt es an deutschen Uniklinika Institute, die hängen zu drei Vierteln von den Drittmitteln ab, das heißt: Die Existenz, die Arbeitsplätze, die Karrieren der jungen Kolleginnen und Kollegen sind unmittelbar davon abhängig, dass irgendein Auftraggeber sagt, ihr kriegt Geld von mir und dann macht ihr was für mich. Und der Mechanismus funktioniert im Einzelnen so: Da werden nicht alle Studien gefälscht, aber es werden Daten mal weggelassen, es werden Daten mal weniger deutlich veröffentlicht. Tatsächlich kann man international zeigen: Die Bereitschaft, positive Ergebnisse zu bringen, ist bei Studien, die von der Industrie bezahlt werden, deutlich höher als bei anderen Studien. Und das beeinflusst inzwischen die Forschungslagen in ganzen Feldern.

Mangel: Soweit der Politikpsychologe Thomas Kliche. Herr Rahn, Sie sind oberster Standesvertreter der forschenden Ärzte in Deutschland. Warum schlagen Wissenschaftler angesichts solcher Zustände nicht laut Alarm?

Rahn: Frau Mangel, ich muss zunächst mal sagen: Wenn ich diese Aussagen von Herrn Kliche höre, dass also Institute fast abhängig sind von den Zuwendungen der Industrie und dass Arbeitsplätze da gefährdet sind, da muss man sich fragen: Auf welch einsamer Insel hat der Herr Kliche in den letzten fünf Jahren gelebt? Wenn man sich einmal anschaut, welche Mittel für die medizinischen Fakultäten – und darüber reden wir ja jetzt, also die Institutionen, die die Wissenschaft in der Medizin betreiben –, ...

Mangel: Ja, genau die hat Herr Kliche in seiner Studie aber auch untersucht.

Rahn: Richtig. Wenn man sich das anschaut, welchen Anteil der Ausgaben die Industriemittel ausmachen, dann sind das in der Regel weniger als 10 Prozent. Und der zweite Punkt, Gefährdung von Stellen – da werden händeringend Ärzte gesucht, es gibt massenweise offene Stellen, und das trifft vor allen Dingen für Stellen zu im Bereich der Forschung. Ärzte, die bereit sind, neben der Krankenversorgung sich auch in der Forschung zu engagieren, die werden heute händeringend gesucht.

Mangel: Aber Sie werden doch zugeben, dass – angesichts von Studien, die heutzutage in vielen medizinischen Feldern ... da gehen die Kosten in die Hunderte Millionen –, dass medizinische Forschung heute ohne die substanzielle Unterstützung der Industrie gar nicht möglich wäre, oder?

Rahn: Das ist ein spezielles Problem, betrifft die klinischen Studien. Diese Studien sind wirklich sehr teuer. So eine gesamte Studie, die fünf Jahre dauert, kostet 50 bis 150 Millionen Euro. Das sind sehr große Beträge, …

Mangel: Das ist ja öffentlich nicht zu finanzieren.

Rahn: … die aus den öffentlichen Mitteln nicht finanziert werden können. Es gibt zwar seit einigen Jahren ein gemeinsames Programm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, das solche klinischen Studien fördern soll, aber die verfügbaren Mittel sind bei Weitem nicht ausreichend.

Mangel: Aber das heißt doch, dass für diesen Bereich der klinischen Studien der Konflikt zwischen wissenschaftlichem Argument und Profitinteresse der Industrie für forschende Mediziner zum Alltag gehört, also dass der Konflikt da strukturell ist.

Rahn: Der Konflikt kann entstehen, muss aber nicht entstehen, und er ist natürlich lösbar. Es gibt ja eine ganze Reihe von großen Studien, gegen die man wissenschaftlich auch nichts einwenden kann, die in Ordnung sind. Problem ist in der Tat, wenn es gelegentlich Versuche vonseiten der industriellen Sponsoren gibt, Einfluss auf das Studienprotokoll und Einfluss auf die Publikationen auszuüben. Das kommt durchaus vor, muss aber nicht sein.

Und deswegen ist ein Vorschlag, den ich immer mache: Man sollte doch, wie das auch in den USA und beispielsweise in Kanada durchaus geschieht, gemeinsame Sponsoren finden, dass also ein Sponsor aus dem öffentlichen Bereich, Deutsche Forschungsgemeinschaft, gemeinsam mit einer Firma eine solche Megastudie finanziert. Das stärkt natürlich die Verhandlungsposition des individuellen Wissenschaftlers, wenn hinter ihm eine große Wissenschaftsorganisation steht.

Mangel: Das gelingt aber ja nun nicht in allen Bereichen, und ich würde gern noch einmal in das Gespräch mit Thomas Kliche letzte Woche hineinhören, da beschreibt er die Folgen der Abhängigkeit von Drittmitteln am Beispiel der Forschung zu den Antidepressiva, und das ist ein Beispiel aus den USA. Das hören wir uns mal an.

Kliche: Ein Viertel der Studien in den USA in den letzten 20 Jahren ist in der Schublade geblieben, und das waren alles Studien, die von der Industrie bezahlt worden waren. In der Schublade geblieben sind die Studien, die Wirkungslosigkeit gezeigt haben. Wenn man die reinrechnet, dann bleibt von der Wirksamkeit der Antidepressiva in vielen Fällen gar nicht viel übrig. Daraus folgt eigentlich: Im Grunde müsste man Psychotherapie verschreiben und nicht Antidepressiva, aber das freut die Pharmaindustrie nicht, und deshalb wird sie weiterhin versuchen, unterirdisch ganze Institute oder Forschungsfachgesellschaften zu kaufen.

Mangel: Noch mal der Politikpsychologe Thomas Kliche. Herr Rahn, Ihrer Arbeitsgemeinschaft, Ihren Fachgesellschaften müsste es doch im eigenen Interesse ein Anliegen sein, gegen solche Zustände anzugehen. Was tun Sie denn da konkret, um das zu verhindern?

Rahn: Das Problem, das Herr Kliche angesprochen hat, das ist in der Tat ein Problem, gegen das man vorgehen muss und gegen das die AWMF, also die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, angeht, das ist das Problem, dass es einen Publikations-Bias, wie man mit einem neudeutschen Wort so schön sagt, gibt, ...

Mangel: Also eine Tendenz, im Sinne des Sponsors zu publizieren?

Rahn: Es kommt offenbar vor, dass Studien nicht publiziert werden, wenn sie ein für den Sponsor ungünstiges Ergebnis liefern. Und deswegen bemüht sich die AWMF schon seit einer Weile darum, dass es Register für klinische Studien gibt, wo man nachsehen kann, welche Studien sind dann durchgeführt worden, und man kann dann auch überprüfen: Von welchen Studien sind die Ergebnisse auch wirklich publiziert worden?

Wir haben uns im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit den Anhörungsverfahren zu dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz bemüht, hier klare Verhältnisse auch in den Gesetzgebungstexten zu erreichen. Das ist leider nicht gelungen. Inzwischen ...

Mangel: An wem oder wo ist das gescheitert?

Rahn: Das ist im Bundestag letztendlich gescheitert. Man hat die entsprechenden Passagen, die vorgeschlagen worden sind, so nicht aufgenommen. Aber es gibt auf europäischer Ebene jetzt einen Fortschritt, der doch hoffen lässt. Es gibt ein Register, das sogenannte EudraCT auf europäischer Ebene, wo alle Arzneimittelhersteller alle Studien melden müssen, auch die Ergebnisse der Studien melden müssen. Seit März diesen Jahres ist dieses Register zumindest in Teilaspekten auch allgemein zugänglich.

Aber meines Erachtens sollte man noch viel weiter gehen: Man sollte wirklich erreichen, zumindest in Deutschland, dass alle Studien, die eine Ethikkommission passieren – und alle klinischen Studien müssen von einer Ethikkommission begutachtet werden –, dass alle diese Studien zentral erfasst werden, sodass man im Nachhinein sehen kann: Was ist nun eigentlich gemacht worden und welche Studien sind publiziert worden?

Und wenn sich da Ungereimtheiten ergeben, müsste auch eine Möglichkeit bestehen, zu fragen: Was sind denn nun eigentlich die Ergebnisse und die Gründe, warum diese Studie nicht publiziert worden ist? Noch eins vielleicht zu den USA, was das Register für Studien betrifft, da haben die im Jahr 2008 eine ganz klare Regelung getroffen, dass alle klinischen Studien publiziert werden müssen. Die sind im Internet abrufbar. Das ist wirklich etwas, was man sich auch für Deutschland wünschen würde.

Mangel: Und Sie glauben, dass es mit einem solchen Register klinischer Studien möglich sein wird, die Einflussmöglichkeiten der Pharmaindustrie so zu kontrollieren, wie es den ich sage mal finanziellen Einflussmöglichkeiten entspricht?

Rahn: Na ja, das ist also einer der Mechanismen, und eine nicht unwichtige Rolle bei diesem ganzen Problem spielen natürlich auch die Ethikkommissionen. Alle klinischen Studien müssen eine Ethikkommission passieren, und die Ethikkommission schaut sich in der Regel – und wenn sie es nicht tut, dann ist das sicher nicht optimal –, schaut sich in der Regel die Verträge zwischen dem Sponsor und dem Wissenschaftler, der eine Studie durchführt, dem Studienleiter an und achtet darauf, dass also beispielsweise ein Passus, wo steht, "Bevor eine Publikation erfolgt, muss die Zustimmung des Sponsors vorhanden sein", die werden gestrichen.

Mangel: Aber liegt das Problem nicht oft gerade darin, dass es nicht um offene Geschäfte geht - ich gebe dir das, du bekommst dafür das, sondern dass es auch um Aussichten, zum Beispiel eben um Karriereaussichten geht, die sich so nicht kontrollieren lassen?

Rahn: Das ist heute für einen Arzt, der in der medizinischen Wissenschaft tätig ist, nicht unbedingt eine großartige Perspektive, eine Karriere in der Arzneimittelindustrie anzustreben.

Mangel: Warum nicht?

Rahn: Erstens einmal sind das Stellen, die häufig eine sehr kurze Halbwertszeit haben, sehr stark abhängig von den Interessen der jeweiligen Industrie, und da gibt es im Bereich der medizinischen Forschung an den Universitäten sicherlich Stellen, die sehr viel attraktiver sind, jedenfalls langfristig. Wenn Sie die Wahl haben, eine etwas schlechter bezahlte Stelle für 20 oder 30 Jahre zu haben, also eine Daueranstellung, und auf der anderen Seite einen Vertrag für drei oder fünf Jahre bekommen, dann muss man sich das schon ganz gut überlegen, wo man zusagt.

Also ich denke, dieser Punkt, dass man mit Karrieren in der Industrie lockt und jemanden dazu verleiten kann, sich falsch zu verhalten bei der Forschung, das spielt quantitativ keine Rolle.

Mangel: Karl Heinz Rahn, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften und damit oberster Standesvertreter der forschenden Ärzte in Deutschland über den Einfluss der Pharmaindustrie auf die Wissenschaft. Danke schön fürs Gespräch, Herr Rahn!

Rahn: Ich danke Ihnen!

Die Äußerungen unserer Gesprächspartner geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

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