"Es ist immer schön anzusehen, wenn die Macht ins Schwimmen gerät"

Christian Petzold im Gespräch mit Britta Bürger · 26.11.2010
Der Filmemacher Christian Petzold sieht in den live im Fernsehen übertragenen Schlichtungsgesprächen zu dem Bahnhofsprojekt "Stuttgart 21" gelebte Demokratie.
Er zeigte sich begeistert vom Fehlen der Bildästhetik und der sonst bei Talkshows üblichen Dramatisierung.

Britta Bürger: Die Schlichtungsgespräche zu "Stuttgart 21" sind ein Medienereignis. Der Fernsehsender Phoenix hat mit seinen Übertragungen die zweitbeste Quote seiner Geschichte erreicht. Das gibt zu denken, schließlich gibt es hier keinerlei aufregende Bildregie – kein Make-up, keine spezielle Ausleuchtung, keine Gesprächsdramaturgie.

Warum ist es dennoch so interessant, sich diese Verhandlungen zwischen Gegnern und Befürwortern des Stuttgarter Bahnhofsprojekts anzusehen? Diese Frage wird uns der Filmemacher Christian Petzold beantworten. Schönen guten Tag, Herr Petzold!

Christian Petzold: Ja, guten Tag!

Bürger: Was hat Sie an der Übertragung der Schlichterrunde vor dem Fernseher gehalten?

Petzold: Erst mal war es so: Wenn man kleine grippale Infekte hat, dann guckt man ja Fernsehen außerhalb der normalen Zeiten, man setzt sich also nicht um acht Uhr vor die "Tagesschau" oder so oder guckt sich um 20:15 Uhr einen Film an, sondern man guckt zu merkwürdigen Zeiten, so 14 Uhr, und dann guckt man auch Sender, die man sonst kaum schaut. Und ich lag da so ein bisschen angegrippt und schaltete da zu dem Phoenix-Kanal und sah eben diese vierte Schlichterrunde – die hatte ich da gesehen – und hab die bestimmt drei, vier Stunden angeschaut ...

Bürger: So lang?

Petzold: Ja, das ist großartig gewesen. Es gab vor ein paar Jahren auf der Berlinale einen Film, einen Dokumentarfilm von Frederick Wiseman, der einfach acht Stunden eine politische Versammlung in einer kleinen Stadt in Tennessee zeigt, wo normale Bürger sich in einem Lokal treffen, wie in so einem Western, in so einem Saloon, und einfach die Dinge, die so anliegen in der Stadt, diskutieren.

Und das erinnerte mich sehr daran, die Phoenix-Übertragung. Es gab eben keine Dramatisierung, es gab also nicht das, was wir jeden Abend so sehen bei "Hart aber fair" oder "Berlin Mitte" oder so, dass da irgendwelche Moderatoren dann E-Mails von Publikumsleuten vorlesen, Schnitte ins Publikum und dann sitzt noch jemand auf der Couch, irgendein Betroffener, und man ist umringt von Lobbyisten und hat Nahaufnahmen von Händen oder Nahaufnahmen von Angstschweiß. Und das hat mir alles so gefallen, dass man einfach nur sah, diejenigen, die nachdenken und etwas vorlegen, dann das, was sie vorlegen, und dann den Schlichter Heiner Geißler. Und das war in seiner Dramaturgielosigkeit so viel aufregender und beeindruckender als alles, was ich bisher so in Talkshows gesehen hatte.
Bürger: Können Sie diese Bildästhetik noch ein bisschen genauer beschreiben?

Petzold: Die von der Schlichterrunde oder die, die mich so nervt seit zehn Jahren?

Bürger: Die von der Schlichterrunde.

Petzold: Es gibt ja keine, es gibt ja keine Bildästhetik. Man sieht einfach eine Totale eines Raums, wo Leute an einer Art Runden Tisch sich gegenübersitzen, und in der Mitte sitzt Heiner Geißler und über ihm ist eine große Leinwand, wo die Computerausspielungen sind von den ganzen Folien und Statistiken, die werden dann eingeblendet, und man sieht eben die Leute, die sprechen, und dann sieht man die Gegenseite, die auch spricht.

Und es wird nicht hin und her geschnitten und dann wird also nicht eine Nahaufnahme gezeigt von dem Bürgermeister der Grünen von Tübingen, der gerade so nachdenklich guckt, oder man weiß, dass das Kameralicht auf ihm ist und er dann so irgendwie kommentierend da seine Augenbrauen hin und her zieht, sondern man sieht wirklich Gedanken sich entwickeln und man sieht wirklich Parlamentsarbeit. Und da dachte ich, das ist eigentlich Demokratie. Demokratie ist eben nicht Abstimmen und ist auch nicht Quote, sondern ist im Grunde genommen der Diskurs.

Bürger: Das hat vermutlich auch so viele Leute dann vor den Fernseher gebracht. Den Beteiligten dort ist ja klar, dass Fernsehkameras mit im Raum sind - gibt es also doch auch bedeutungsvolle Posen, wie wirken die Protagonisten dieser Gespräche? Denn Wirkung ist ja im Fernsehen das A und O.

Petzold: Na ja, man sieht so ein bisschen, dass dadurch, dass man eben diesmal nicht so tolle Kameraausschnitte wählt und 60 Kameras da sind, sondern nur drei, sieht man auch, dass die angelernten Posen – gerade der CDU und der Deutschen Bahn –, die angelernten Posen, die Sie sonst aus Talkshows kennen, nicht zur Geltung kommen. Sie kriegen keine Großaufnahmen, deswegen ist ihre Pose auch fast sinnlos und wird fast lächerlich.

Und deswegen wird einem plötzlich klar, dass hinter jeder Politik eigentlich eine gute Argumentation stecken sollte. Und nach zwei, drei Stunden haben die das dann auch gemerkt und kamen ins Schwimmen. Das war toll. Es ist immer schön anzusehen, wenn die Macht ins Schwimmen gerät.

Bürger: Wer hat denn also Ihrer Ansicht nach von der fehlenden interpretierenden Bildregie profitiert? Anscheinend die Gegner von "Stuttgart 21".

Petzold: Ja, offensichtlich. Also erst mal hat man gemerkt ... Dadurch, dass man so viel Zeit hatte und zuhören konnte hat man gemerkt, dass diese lange Geschichte des Bahnhofes im Grunde genommen nur in die Richtung geht, Immobiliengeschäfte zu machen und dass die Gegenseite eigentlich, die gegen "Stuttgart 21" sind, eigentlich schon ganz klar den Finger auf die Wunde legen und sagen: Hier entstehen Grundstücke, die sich kein Schwein leisten kann, also haben wir wieder eine Innenstadt mit H&M, Zara, Versicherungen und Schlecker, und das wollen wir nicht mehr, wir wollen einen öffentlichen Raum, der uns gehört. Und darum geht es eigentlich. Und das sah man richtig entstehen. Und auch der Geißler selber, konnte man sehen, der verstand plötzlich, worum es hier eigentlich geht.

Bürger: Der Filmemacher Christian Petzold hält die Phoenix-Übertragung der Schlichtungsgespräche zu "Stuttgart 21" für das Beste, was er seit Langem im Fernsehen gesehen hat – Thema unseres Gesprächs hier im Deutschlandradio Kultur. Sie haben gerade Heiner Geißlers Rolle dort in dieser Fernsehübertragung auch der Schlichtungsrunde angesprochen, hat er denn da eine gute Rolle abgegeben oder war er einfach besonders authentisch?

Petzold: Der Geißler überrascht mich immer, weil er ja früher, ich glaube, Generalsekretär der CDU eigentlich ein Antisozialist war und ich den eigentlich immer so auf der anderen Seite gesehen habe, und da dachte, man müsste dieses eine Sprichwort umändern: Wer bis 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz, und wer mit 70 noch Sozialist ist, hat keinen Verstand. Das müsste man bei Geißler eigentlich umdrehen. Er hat sein Herz entdeckt. Ich merke richtig, dass der so was Volksrichtermäßiges hat, im besten Sinne, vielleicht so was wie bei Kleist, dass er immer wissen will, machen sie es verständlich. Die größte Form von intellektueller Leistung ist, einen komplexen Sachverhalt einfach auszudrücken – nicht volkstümelnd, sondern wirklich nicht nur Schlichtung, sondern auch schlicht, schlicht auszudrücken.

Bürger: Und er hat die Leute da richtig an die Kandare genommen, sich auch verständlich auszudrücken.

Petzold: Ja, und das Brutale ist, man merkt, dass die alle 13 Jahre auf Gymnasien oder Schulen gewesen sind und sofort diese Autorität akzeptiert haben. Da begehrt keiner auf, das ist interessant, das zu sehen.

Bürger: Ist das der Grund, warum die Übertragungen aus dem Bundestag nicht annähernd so viele Menschen erreichen, dass die Leute da einfach nichts verstehen?

Petzold: Ich glaube, da ist was Furchtbares passiert in den letzten Jahren, das hat ein bisschen leider auch mit Rot-Grün angefangen, dass so viele Dinge aus der öffentlichen Diskussion, also aus dem Parlament verschwunden sind und zu Expertengruppen abgeschoben worden sind, also hinter verschlossenen Türen Gesetzestexte und so weiter, mit Lobbygruppen und so dort diskutiert worden sind und nicht mehr öffentlich. Und das hat dem Parlament geschadet. Wenn wirklich solche Diskussionen wie Privatisierung der Deutschen Bahn, was ja skandalös ist, wenn das im Parlament diskutiert worden wäre, anständig diskutiert worden wäre, und das würde von Phoenix übertragen, würde das wahrscheinlich genauso hohe Einschaltquoten haben.

Bürger: Gelebte Demokratie im Fernsehen - hatte das Ganze denn aber auch einen Unterhaltungswert?

Petzold: Ja, gelebte Demokratie ist so unterhaltsam, wenn die wirklich gelebt ist, dass ich einfach glaube, dass diese ganzen Talkshows eigentlich dazu da sind, Demokratie abzuschaffen.

Bürger: Warum?

Petzold: Ja, weil es einfach nur auf Ja, Nein, machen Sie Ihr Kreuzchen, dann wird noch hier so ein Stimmungsbarometer und TED wird noch eingeblendet, und nach dieser Sendung sind nur 68 Prozent dafür, Minarette wegzusprengen oder irgend so was, und dann denkt man sich, das ist doch nichts, das ist doch keine Diskussion.

Da sitzt dann immer dasselbe Publikum da, dieser – wie heißt der – Hans-Olaf Henkel und irgend so ein anderer irgendwie Zombie aus dem Bund deutscher Industrieller und auf der anderen Seite hat man dann irgendein Opfer, da kann ja nichts draus entstehen, kein Gespräch, weil es ein Betroffenheitsgespräch ist. Und im Parlament oder eben bei den Schlichtungsgesprächen werden Gedanken erarbeitet, und wir sehen, das Fernsehen dokumentiert diese Arbeiten – das ist großartig.

Bürger: Ist das etwas, was auch Ihr Filmemachen leitet, Gedanken auf der Leinwand zu entwickeln?

Petzold: Ja, ich finde es auch schön, wenn man sieht, wie eine Liebe sich entwickelt und wenn man sie nicht einfach nur behauptet. Denn sich zu verführen, ist auch eine Arbeit, und das muss man sehen.

Bürger: Was könnten heutige Filmstudenten am Beispiel dieser Phoenix-Übertragung der Schlichtungsgespräche lernen?

Petzold: Ja, vielleicht ein bisschen auf ihren Computer-Schneidetischen ein bisschen auf die Special Effects verzichten und nicht immer auf Wirkungen aus sein. Erst mal etwas betrachten, sehen und diesen betrachteten Dingen einen Raum und eine Zeit geben.

Bürger: Aus diesen betrachteten Dingen muss Heiner Geißler nun sein Fazit ziehen, was erwarten Sie von dem Schlichterspruch am Dienstag?

Petzold: Ja, eigentlich ist "Stuttgart 21" tot, muss man sagen. Also nach dieser Diskussion ist es nicht mehr zu halten. Und ich glaube auch, das wird in diese Richtung gehen.

Bürger: Die Fernsehübertragung der Schlichterverhandlungen zu Stuttgart 21 im Blick des Filmemachers Christian Petzold. Ich danke Ihnen, Herr Petzold, für das Gespräch!

Petzold: Dankeschön!

Bürger: Und zur Stunde läuft die Phoenix-Übertragung der heutigen Schlichterrunde noch, morgen früh geht es dann weiter bei Phoenix, ab 8:45 Uhr. Ja, und ich hoffe, Sie sind nicht krank, sonst könnten Sie morgen noch mal den ganzen Tag gucken!

Petzold: Ich muss morgen wieder in diesen Schneideraum, das ist, da geht es auch um Arbeit und Liebe und so, aber ich guck mir das im Internet dann nachher an. Das ist aber nicht so schön, wie im Fernsehen. Das ist wirklich interessant, dass dieses einsame Schauen, dieses zeitversetzte Schauen im Internet irgendwie keine große Erzählung ist. Das ist so ein einsames Gucken. Und wenn man aber Phoenix guckt, weiß man, sind Hunderttausende dabei.

Ist bei mir das letzte Mal so gegangen: Im Fernsehen lief Stanley Kubricks "Shining" – und ich hab das als DVD in noch einer viel besseren Qualität, Originalfassung mit Untertiteln –, ich hab es mir im Fernsehen synchronisiert angeschaut, weil ich das Gefühl hatte, ich guck es jetzt nicht alleine. Dankeschön!

Bürger: Bis bald, tschüss!