"Es ist ein Luxus, sich mit den Toten zu beschäftigen"

Von Tobias Wenzel · 20.09.2013
Wieso wäre Ilija Trojanow ohne die Kunst heute gar nicht am Leben? Und warum sagt er, es bringe Unglück, in ein Grab zu treten, und steht kurz darauf selbst mit beiden Beinen drin?
Die Straßenbahnlinie 13 kommt zum Halt: Endstation Zentralfriedhof. Todesanzeigen mit Fotos der Verstorbenen hängen an der tristen Friedhofsmauer und am Tor des Seiteneingangs.

Auf dem riesigen Friedhof liegen orthodoxe und römisch-katholische Christen ebenso begraben wie Juden. Besucher scheint es an diesem Morgen aber so gut wie keine zu geben.

"Es ist ein Luxus, sich mit den Toten zu beschäftigen, wenn die Menschen ihren Alltag eigentlich als eine Art Vorstufe zum Tod empfinden, wie es in Bulgarien der Fall ist. Da ist natürlich so ein heruntergekommener, verwilderter, verschmutzter Friedhof nicht der Ort, wo man hingeht, um seiner Verwandten zu gedenken, um sich seines Lebens zu versichern."

Ilija Trojanow ist in seine Geburtsstadt Sofia zurückgekehrt. Er möchte das Grab seines Großvaters besuchen. Zwischen all den maroden Gedenksteinen fallen protzige moderne Grabstätten auf. Eine hat eine Überdachung aus blauem Plexiglas. Das Foto eines jungen Mannes mit seinem Sportwagen ist in einen Stein eingraviert.

"Die beiden Jungs sind mit großer Wahrscheinlichkeit beide erschossen worden, der da vorne und der hier, weil: mit viel Geld in diesem Land, in diesem Alter ... "

Mafia-Morde. Der Friedhof selbst sei in Mafia-Hand, hat mir ein Anwohner erzählt. Geschützte Freiflächen zwischen Gräbern würden für horrende Summen unter der Hand verkauft. Die Leichen würden nur halb so tief begraben wie vorgeschrieben. Da würden die auf dem Friedhof lebenden wilden Hunde die Leichen wittern und versuchen, sie wieder auszuscharren. Am Vortag habe auch ich die ausgehungerten Hunde gesehen. Ein Friedhofswärter hat von mir einen frei erfundenen Eintrittspreis verlangt.

"Wenn Sie sich mit Bulgaren unterhalten: Ich kenne, glaube ich, keinen, der das Gefühl hätte, dass es in diesem Land auch nur annähernd so etwas wie Recht oder Gerechtigkeit gibt."

Ilija Trojanows Familie floh 1971 nach Deutschland und bekam politisches Asyl. In einem Dokumentarfilm hat Trojanow ehemalige politisch Gefangene zu Wort kommen und über das ihnen widerfahrene Unrecht sprechen lassen. In der letzten Einstellung des Films stehen die alten bulgarischen Männer auf dem Zentralfriedhof.

Ilija Trojanow auf dem Zentralfriedhof von Sofia (Bild: Tobias Wenzel)


Als ich Ilija Trojanow vor dem Gemeinschaftsgrab seiner Familie mütterlicherseits fotografiere, trete ich aus Versehen mit einem Fuß in ein Grab. Der Schriftsteller ist entsetzt: So etwas könne Unglück bringen. Kurz darauf liest er eine Passage aus seinem Buch "Der Weltensammler" vor und erzählt mir dann, warum er sich seinem Großvater so verbunden fühlt. Ilija Ivanow war wie sein Enkelsohn Künstler, zuerst Geiger, später Opernregisseur. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt er für eine Inszenierung den höchsten bulgarischen Kulturpreis:

"Und meine Mutter war todkrank. Eine Krankheit, die sich nur mit Antibiotika heilen ließ. Damals nach dem Krieg gab es in Bulgarien noch keine Antibiotika. Und einer der Fans der Oper war der Kulturattaché der amerikanischen Botschaft. Mein Großvater hat das ganze Geld von diesem Staatspreis ihm gegeben. Damit hat der amerikanische Diplomat ihm Medizin besorgt und meine Mutter hat dann überlebt. Das heißt, aufgrund der künstlerischen Arbeit meines Großvaters wurde es dann möglich, dass ich eines Tages geboren wurde. Und das ist ja doch eine kleine Würdigung und ein kleines Dankeschön wert."

Als Ilija Trojanow das sagt, blickt er auf das Grab seiner Familie, steht lässig angelehnt an einen gewaltigen Grabstein aus Beton:

Der Stein ist ins Grab gefallen und mit ihm Ilija Trojanow und sein Roman "Der Weltensammler".

"Das ist ja unglaublich. Das ist mir ja noch nie passiert."

Mit größter Anstrengung wuchten wir den Zentner schweren Grabstein wieder hoch. Dabei stehen wir mit beiden Beinen mitten im Grab.

Der Stein ist wieder in sein Fundament eingerastet. Wir sind außer Atem. Ilija Trojanow braucht eine Weile, bis er wieder normal sprechen kann:

"Ilija Trojanow, Zentralfriedhof, Sofia, Bulgarien"

Am Grab seines Großvaters nennt Ilija Trojanow einen weiteren Grund dafür, warum er mich hierhin geführt hat:

"Es ist für mich deswegen ein wichtiger Ort, weil es in der Vorstellung vieler Völker, vor allem afrikanischer Völker, diese große Nähe gibt, die eine Generation überspringt. Das heißt: eine Vorstellung der Geistes- und Seelenverwandtschaft zwischen Großeltern und Enkeln. Mein Großvater ist leider gestorben, bevor ich geboren wurde. Er ähnelte mir wohl sehr. Das haben sowohl meine Großmutter als auch meine Tante immer wieder behauptet."


Tobias Wenzel ist um die Welt gereist, um Schriftsteller auf Friedhöfen zu treffen - SerieFriedhofsbesuche