"Es geht um unser Leben, es ist unser Land"

Gerald Häfner im Gespräch mit Joachim Scholl · 03.03.2009
Gerald Häfner vom Verein "Mehr Demokratie" fordert mehr Bürgerentscheide, damit die Menschen sich stärker mitverantwortlich für die Politik ihres Landes fühlten. Gerade in Bezug auf die derzeitige Finanzkrise fände er es richtig schrecklich, dass im Moment die Menschen das Gefühl hätten, man könne da nichts machen, sagte Häfner.
Joachim Scholl: Im Studio begrüße ich jetzt Gerald Häfner vom Verein "Mehr Demokratie". Guten Tag, Herr Häfner!

Gerald Häfner: Ja, grüße Sie, Herr Scholl.

Scholl: Diese Bilanz steigender Bürgerentscheide, mehr als 150 im vergangenen Jahr, wird Sie natürlich freuen. Übermorgen werden Sie einen entsprechenden Bericht Ihres Vereins mit genauen Zahlen in Berlin veröffentlichen. Wie kommt diese Entwicklung eigentlich Ihrer Meinung nach zustande? Ist das ein Zeichen, dass immer mehr Bürger unzufrieden mit der herkömmlichen, also rein parlamentarischen Demokratie sind oder nur eine Konsequenz, dass immer mehr Länder die Hürden für Volksbegehren ja gesenkt haben?

Häfner: Na ja, das eine würde ohne das andere gar nicht stattfinden. Das heißt anders gesagt, man kann ganz deutlich beobachten, und alle Untersuchungen, Umfragen usw. zeigen dies, dass es den Bürgern nicht mehr genügt, alle vier oder manchmal auch nur alle fünf, alle sechs Jahre ihre Stimme abzugeben, im doppelten Wortsinn abzugeben, weil dann meistens die Stimme auch für vier, fünf, sechs Jahre weg ist, und ansonsten ohnmächtig zu ertragen, was die Politik entscheidet. Sondern die Bürger fühlen sich mitverantwortlich für die Welt, in der wir leben, für das Land, in dem wir leben, für die Stadt, Kommune usw. Und sie wollen auch mitreden und mitentscheiden, und das ist ja eigentlich auch der Kern von Demokratie, "demoskratain", das Volk regiert, das Volk herrscht.

Also ich begrüße das uneingeschränkt und bin auch ein bisschen stolz darauf, jetzt nicht für mich als Person, sondern für die Bürger und für mehr Demokratie, weil wir das ja mit herbeigeführt haben. In sehr vielen Ländern hatten wir Demokratieinitiativen gestartet, um dort Bürgerbegehren, Bürgerentscheide durchzusetzen oder praktisch möglich zu machen. Wir haben oft Regelungen, die aber in der Praxis nicht funktionieren. Dann haben wir sie verbessert zusammen mit den Bürgern. Und es zeigt sich, dass überall, wo wir da antreten, Dreiviertel oder mehr der Bürger auf unserer Seite stehen, das heißt, die Bürger wollen mehr entscheiden. Und deswegen gibt es auch immer mehr Bürgerentscheide und ich hoffe bald auch Volksentscheide auf Bundesebene.

Scholl: Da kommen wir gleich zu, Herr Häfner. Aber am Beispiel der Abstimmung über den Flughafen Tempelhof, wie wir gerade gehört haben, hat man jedoch auch zwei Seiten eines Volksbegehrens recht gut studieren können. Auf der einen Seite ein hohes Bürgerengagement, unbestritten, andererseits viele Platitüden und populistische Sprüche. Das ging also bis hin auch manchmal wirklich über die Schmerzgrenze hinaus, keine Flughafen für Bonzen und dergleichen. Das wird Ihnen auch nicht gefallen haben, oder?

Häfner: Da gibt’s viel, was man kritisieren kann. Im Übrigen hat ohnehin Ihr Redakteur Herr Hatting aus den Tausenden - es sind ja 4.500 Bürgerbeteiligungsverfahren insgesamt, die wir bis heute in Deutschland auf kommunaler Ebene haben, und 206 Volksbegehren -, aus denen die Fälle rausgesucht, wo es Probleme gab, zum Beispiel Dresden, Waldschlösschenbrücke, wo einfach das Regierungspräsidium nicht zugelassen hat, dass die Bürger entscheiden. Oder den Fall Tempelhof oder Rechtschreibreform, wo das Votum dann gekippt wurde vom Landtag. In den meisten Fällen geht es gut. In Berlin habe ich den Eindruck, da gibt es jetzt einen Boom, weil es lange Zeit keine Möglichkeit von Volksbegehren, Volksentscheiden gab. Jetzt endlich ist das durchgesetzt, und jetzt übt Berlin das noch.

Also um ein Beispiel zu sagen: Einen Volksentscheid anzusetzen in einer Stadt und vorher vom Regierenden Bürgermeister erklären zu lassen, wir werden aber das Ergebnis nicht anerkennen, das ist meines Erachtens so ziemlich das Unmöglichste, was man mit den Bürgern tun kann. Man muss aber auch die Initiatoren kritisieren, sie haben sehr populistisch argumentiert, und sie haben es versäumt, einen rechtsverbindlichen Vorschlag vorzulegen, was denn eigentlich mit Tempelhof geschehen sollte.

Überall da, wo wie in Bayern oder anderen Bundesländern mehr Erfahrungen mit Volksbegehren, Volksentscheid vorliegen, geht so was nicht, weil die Bürger würden dann gar nicht unterschreiben. Die würden sagen, Moment mal, klärt doch erstmal die ganzen Sachfragen, wir wollen Antwort auf das, das, das, vorher unterschreiben wir nicht. Berlin scheint mir, übt da noch, und ich denke, das wird mit jedem Volksbegehren und jedem Volksentscheid besser werden.

Scholl: Gut, die Hauptstadt übt also noch, das sagt Gerald Häfner hier im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur …

Häfner: Ich hoffe, die Berliner sind mir nicht böse.

Scholl: … Deutschlandradio Kultur. Wir sprechen über Pro und Kontra von Volksbegehren. Herr Häfner, also, die Politik räumt zunehmend Hürden beiseite, vor allem in den Kommunen. Sie mit Ihrem Verein setzen sich jedoch auch mit aller Kraft für Volksentscheide auf Bundesebene ein. Ich würde mal barsch die These wagen, wenn wir vor acht Jahren als Bürger darüber hätten befinden dürfen, ob wir den Euro einführen wollen, hätten wir ihn heute nicht.

Häfner: Ist das eine Frage?

Scholl: Ja. Das ist eine Behauptung. Ich glaube nämlich, dass sozusagen, na ja, Sie wissen, worauf ich hinaus will?

Häfner: Ich weiß gar nicht, ob ich dagegenhalten soll. Also ich weiß es einfach nicht. Ich glaube, niemand weiß es, und zwar vor allem deshalb, weil es die Debatte darüber nicht gab. Sehen Sie, das Interessante an Volksentscheiden ist in meinen Augen gar nicht so sehr das Ergebnis, sondern das ist, dass endlich einmal Debatten geführt werden, die sonst nicht geführt werden, und zwar Debatten in der Sache. In Wahlkämpfen werden ja immer Hunderte von Themen vermischt, und dann bleibt irgendwie übrig, was weiß ich, Schröder oder Merkel oder irgendwelche relativ dumpfen Dinge.

Beim Volksentscheid geht es um eine konkrete Sachfrage. Und da wird dann ein halbes Jahr oder ein Dreivierteljahr im ganzen Land intensiv mit Pro und Kontra drüber diskutiert. Wie das ausgeht, weiß ich nicht. Wir haben viele Fälle in Ländern, wo man Umfragen gemacht hat im Vorfeld - ich nehme mal nur als Beispiel Österreich. Da hat ja die damalige Regierung angeordnet einen Volksentscheid über die Atomenergie, weil sie eine Umfrage gemacht hat, in der sich herausstellte, 26 Prozent sind dagegen, 74 Prozent dafür. Also hat man gesagt, machen wir Volksabstimmung, um beweisen zu können, dass die Bürger das doch wollen. Aber in der Debatte ist das komplett gekippt. In der Debatte war es dann so, dass die große Mehrheit sich gegen Atomenergie ausgesprochen hat, und die Regierung war verzweifelt, musste aber anerkennen, was die Bürger beschlossen haben.

Scholl: Gern in wird in diesem Zusammenhang auf die Schweiz verwiesen als Beispiel für den demokratisch positiven Impuls. Im Kanton Appenzell wurde das Frauenwahlrecht qua Volksentscheid über Jahrzehnte erfolgreich verhindert, erst 1990 kam es schließlich dazu. Das ist natürlich immer Wasser auf die Mühlen der Kontra-Fraktion. Muss es, Herr Häfner, aber in der Politik nicht immer auch so etwas wie eine Avantgarde geben, die eben dann wirklich neue Akzente setzt und dann eben auch der vox populi dann widerstehen muss?

Häfner: Absolut. Im Übrigen würde ich sagen, das zeigen die internationalen Untersuchungen, Volksentscheide sind ein Instrument der Avantgarde. Ich gebe Ihnen mal ein anderes Beispiel auch aus der Schweiz, und ich gebe Ihnen mit Absicht jetzt das Beispiel eines gescheiterten Volksentscheids, also Wasser sozusagen auf die Mühle Ihrer kritischen Fragen: Das war der Volksentscheid "Abschaffung der Schweizer Armee". Das Gesetz hieß: "§ 1: Die Schweizer Armee ist abgeschafft", Punkt. Als die Initiatoren das gestartet haben, habe ich gesagt, ihr seid völlig verrückt, das ist, wie wenn ich in Bayern die Abschaffung des Biers beantragen würde, das kann nicht gelingen.

Dann haben die gesagt: Weißt du, Gerald, wir glauben auch nicht, dass wir gewinnen, aber wir wissen, der Volksentscheid ist die einzige Möglichkeit, wie wir es schaffen, dass in der Schweiz mal drüber diskutiert wird, warum damals noch jeder junge Mann zwei Jahre zum Militär muss, im Schlamm robben, auf irgendwelche Strohpuppen schießen, seine beste Lebenszeit vertun, warum wir 46 Milliarden für Düsenjäger und Waffen ausgeben und nicht für das Elend im Land und in der Dritten Welt. Das gab dann eine Abstimmung: 36 Prozent waren für die Abschaffung der Schweizer Armee, was niemand erwartet hat. Die Folge war, die Wehrdienstzeit wurde drastisch reduziert auf jetzt zwölf Monate, Kriegsdienstverweigerung wurde erlaubt, die bestellten Düsenjäger wurden wieder abbestellt usw.

Also es geht doch gar nicht immer nur um Rechthaben, um Ja oder Nein. Es geht darum, gesellschaftliche Debatten zu führen. Und das ist meines Erachtens das eigentlich Spannende an der direkten Demokratie, dass endlich die Menschen auch das Gefühl zurückgewinnen, es geht um unser Leben, es ist unser Land, wir sind mitverantwortlich. Auf diese Debatten freue ich mich übrigens auch gerade in solchen Fragen - Sie hatten das ja anfangs angesprochen - wie Finanzkrise. Ich finde das richtig schrecklich, dass im Moment die Menschen das Gefühl haben, man kann da nichts machen. Das wird alles über unsere Köpfe hinweg entschieden, mit Folgen für viele Generationen noch, die das abbezahlen müssen, was jetzt zum Fenster rausgeschmissen wird.

Scholl: Sie haben da kürzlich eine sehr interessante Rede gehalten - kommen wir noch mal drauf zu sprechen, wir haben nicht mehr so viel Zeit -, in der Sie also gerade diese aktuelle Finanzkrise mit diesem Gedanken des Volksbegehrens zusammengebracht haben. Wie sollte denn hier, wie könnte denn hier die Frage eines entsprechenden Volksentscheids lauten?

Häfner: Also zunächst mal, es gibt hoch interessante internationale vergleichende Untersuchungen, die zeigen, überall da, wo die Bürger über die Staatsfinanzen mitentscheiden können, wird das Geld effizienter verwendet, ist mehr Transparenz, wird es sozial gerechter verwendet und ist die öffentliche Hand sparsamer. Um einen ganz konkreten Vorschlag zu machen: In der Schweiz gibt es so was wie das Finanzreferendum, das heißt, dass bei bestimmten großen Ausgaben die Bürger verlangen können, dass das nicht einfach - das ist ja ihr Geld, das Geld der Bürger, unser Geld - dass das nicht einfach ausgegeben wird, sondern dass das vorher einer Volksabstimmung unterworfen wird.

Das Gleiche gilt für Steuerfragen in der Schweiz. So etwas würde ich mir wünschen. Ich glaube übrigens, dann wären wir gar nicht so dick in die Tinte gekommen, wie wir jetzt sitzen. Das Geld, das die Regierung da reinschießt, inzwischen ja 700 Milliarden, ist doch nicht das Geld der Regierung. Das ist ja unser Geld. Und ich hätte mir eine Debatte darüber gewünscht, ob man das tun soll, und wenn ja, wie und wo dieses Geld vernünftig verwendet ist.

Scholl: Volksbegehren - Pro und Kontra mit dem Vorstandssprecher des Vereins "Mehr Demokratie" Gerald Häfner hier im Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Häfner: Ich danke Ihnen auch Herr Scholl. Ich habe das Gefühl, wir sollten das Gespräch fortsetzen.

Scholl: Mit Sicherheit wird uns das Thema weiter begleiten, und wir kommen dann gerne auf Sie zurück. Alles Gute nach München.

Häfner: Tschüss.