"Es fehlt das Verständnis für Kompromisse"

Ekkart Zimmermann im Gespräch mit Ulrike Timm · 21.08.2013
Für einen friedlichen Übergang müssten die Eliten in Ägypten bereit sein, miteinander zu kooperieren, betont der Soziologe Ekkart Zimmermann. Doch stattdessen greife jede Gruppe nach der Macht "und bringt die anderen letztlich um".
Ulrike Timm: Wir waren doch fast alle euphorisch zu Beginn des Arabischen Frühlings: korrupter Präsident Mubarak - weg damit, Meinungsfreiheit und Demokratie - her damit. Und nun, gerade mal fast drei Jahre später, die säkulare Verfassung durch eine islamische ersetzt, ein demokratisch gewählter Präsident Mursi abgesetzt, ein Militär, das Ordnung zu schaffen versprach und unter den Muslimbrüdern ein Blutbad anrichtet, kurzum: Derzeit muss man die Situation in Kairo wohl schlicht Bürgerkrieg nennen.

Und wer tatsächlich die Mehrheit stellt, die Anhänger einer streng islamischen Republik oder die Menschen, die mehr Offenheit und Freiheit herbeidemonstrieren wollten, das vermag wohl tatsächlich niemand seriös zu beantworten. Aber warum kippen Umstürze, von denen man sich Freiheit erhofft, so leicht um in eine verworrene Situation dauernder Gewalt, und wie lange dauert es, bis eine Revolution in eine neue, in eine stabile Situation mündet? Ist das automatisch eine fortschrittliche in unserem Sinne?

Darüber können wir sprechen mit Ekkart Zimmermann, emeritierter Soziologieprofessor der TU in Dresden und Revolutionsforscher.

Guten Tag, Herr Zimmermann!

Ekkart Zimmermann: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Als eben solcher, als Revolutionsforscher, wie schauen Sie denn auf das derzeitige Chaos in Ägypten?

Zimmermann: Ja, da ist alles offen, und was eigentlich nötig wäre, wäre die Wiederaufrichtung des Gewaltmonopols, die Frage: Wie soll das gehen, wenn man jetzt gegen die Muslimbrüder weiter vorangeht? Dann wird es eine weitere Gewaltspirale geben, also da fehlt dann die Legitimität.

Aber das ist das erste Problem, was gelöst werden muss, also das Gewaltmonopol einzurichten, das Abgeben der Waffen, und dann ist auch die Polizei dafür zuständig, das Militär hat nur nach außen die Sicherheit zu gewährleisten, also schon ein Durcheinander hier, und das Zweite wäre eine funktionierende Wirtschaft, zumindest für den Alltag, da ist auch nichts in Sicht.

Tourismus ist weggebrochen, woher sollen die Leute außer von Subventionen von außen ihren Lebensunterhalt bestreiten? Und das Dritte ist eben, dass es furchtbar lange dauert, bis politische Institutionen eingerichtet sind, geschweige denn Demokratie.

Also von daher ist der maximale Problemberg, es fehlt eigentlich nur noch eine riesige Seuche unter den Menschen oder eine Katastrophe der Natur anderer Art, der maximale Problemberg ist wirklich dort anzutreffen.

Timm: Das ist fast schon sarkastisch, wie Sie das beschreiben, maximaler Problemberg. Was sagt uns denn die derzeitige Situation über unsere westliche Euphorie angesichts des arabischen Frühlings, die mal geherrscht hat? Waren wir alle ein bisschen naiv?

Zimmermann: Ja, man muss ja die Medieneuphorie unterscheiden, die Medien sind ja, wie Luhmann mal gesagt hat, selbstreferenziell, er war da auch nicht der Erste, der das entdeckt hat. Und wie gesagt, die drei Probleme, die ich benannt habe, die sind grundsätzlicher Art, und die löst man nicht durch Medienauftritte, durch Freudentänze auf der Straße, sondern nur durch Geduld, Arbeitsdisziplin und Institutionen, die die Arbeitsteilung fördern und auch die Politik vor den alltäglichen sozialen Forderungen ein bisschen isolieren, und all das fehlt.

Es fehlt das Verständnis für Spielregeln, für Kompromisse. Mursi hat die Mehrheit als "Der Sieger übernimmt alles" verstanden, und das löst Gegenbewegungen aus. Wenn Mursi ein Mandela gewesen wäre und milde gewesen wäre, dann hätte das Ganze vielleicht eine ganz andere Richtung genommen.

Der "Economist" hat eine Dreiteilung der Macht ins Auge gefasst, und ich glaube, das ist die einzige Chance in Ägypten - ich bin ja nun kein Politiker. Die Militärs kriegen ihre Waffen und haben das Monopol in dem Bereich, und dürfen auch die Modernisierungskraft darstellen, die Wirtschaft muss ihre hinreichende Autonomie haben, und in Dingen des alltäglichen Lebens eine abgebremste islamische Scharia, also so, dass die Muslime auch das Gefühl haben, die gläubigeren, sie kommen zu ihrem Recht.

Und stattdessen greift jetzt jede Gruppe nach ihrem eigenen Willen und bringt die anderen letztlich um.

Timm: Die Chance, die Sie da beschreiben, die liegt ja, wenn, dann noch in langer Zukunft, die muss sich ja erst mal herausmendeln, dass man da wirklich zu einer Gewaltenteilung wieder kommt. Wenn wir auf die derzeit unübersichtliche Situation, auf die gewaltvolle Situation und die Ernüchterung aller Träume schauen, ist das womöglich nach dem Umsturz vor fast drei Jahren auch ein zwangsläufiger, vielleicht sogar ein notwendiger Prozess, dass man Demokratie eben auch üben muss, dass die nicht einfach da ist?

Zimmermann: Ja, Demokratie ist letztlich das Zugeständnis, dass die bisherigen Eliten nicht einen Kopf kleiner gemacht werden, wenn sie die Macht abgeben. Es sei denn, sie hätten also nun wirklich schlimmste Verbrechen verübt und es gäbe noch so was wie eine Todesstrafe nach ...

Timm: Na ja, Mubarak hat ja die Macht abgeben müssen.

Zimmermann: Bitte?

Timm: Mubarak hat ja die Macht abgeben müssen, das ...

Zimmermann: Ja, ja, aber die Unsicherheit ist beispielsweise, ob er eben überleben kann, wenn er aus dem Gefängnis rauskäme, die Massen würden ihn sofort massakrieren, jetzt ist ja im Gespräch, dass er freigelassen wird, was natürlich symbolisch völlig in die falsche Richtung geht.

Aber ganz wichtig ist für einen friedlicheren Übergang, dass die Alteliten in irgendeiner Form überleben können. Sie sehen das in Südafrika, und Mandela hat dann die Hand gereicht, und man hat es gesehen in Spanien, wo eben weniger extrem ausgerichtete, früher den Falangisten nahestehende Gruppen die Macht dann geöffnet haben zur Mitte hin, und damit also gewissermaßen den Bürgerkrieg - Spanien ist ein gutes Vergleichsbeispiel - beendet haben.

Denn die Massen mobilisieren sich ja nicht von alleine, jedenfalls nicht auf Dauer, sondern sie sind ja von jeweiligen Eliten gesteuert, und solange die Eliten nicht willens sind, miteinander zu kooperieren, auch irgendwo Verzichtsleistungen zu dokumentieren und durchzusetzen, wenn jeder Recht hat, dann hat man dort die Situation, dass eben die Voraussetzungen für die Demokratie, dass der andere eben eine andere Meinung hat, und dass er auch gewinnen kann an den Wahlurnen, aber als Verlierer bei der nächsten Wahl wieder zur Debatte stehen kann und dann wieder gewinnen kann.

Also als offene politische Form der Organisation, dann fehlen diese Voraussetzungen, und dann ist letztlich der Stärkere, der die Gewalt hat, und das führt dann auch dazu, dass zahlreiche psychologische und sonstige Mechanismen dazu führen, dass die Bürger sich auch selbst bewaffnen, weil man ja weiß, woran man ist, wenn man den besonders gewaltsamen Gruppen, sich mit denen auseinandersetzt, die milderen können ja unterliegen, und dann sieht es ganz besonders schlimm aus, wenn man dort Anhänger solcher Gruppen hat. Also das Treiben in die Extreme ist die ganz gefährliche Situation.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" wir sprechen mit Professor Ekkart Zimmermann über revolutionäre politische Prozesse und darüber, wie er die Situation in Ägypten sieht. Herr Zimmermann, man verbindet mit Revolution ja immer den Ausdruck nach vorn oder das Image nach vorn. Gibt es eigentlich Beispiele in der Geschichte, wo Revolutionen im bleibenden Chaos schlicht stecken geblieben sind?

Zimmermann: Im Prinzip sind Revolutionen zu kostspielig gewesen. Es gibt vielleicht eine Ausnahme - da ist natürlich die Frage, wie weit wir historisch zurückgehen, bleiben wir mal bei der Neuzeit und auch stark westlich geprägt -, dann ist die Englische Revolution, die ja viele Pfade beschritten hat im 17. Jahrhundert, eigentlich als ein Schritt nach vorne zu begreifen.

Man hat zwar den König hingerichtet, aber im Prinzip war es ... es war zwar ein Bürgerkrieg, aber man hat dann relativ schnell Schluss gemacht, und es hat aber bis 1688 gedauert, bis das Wort von der Glorious Revolution wieder aufkam, und frühere liberalere Zustände wieder hergestellt wurden und eine Balance zwischen den Machtträgern vorhanden war. Alle nachfolgenden Revolutionen, vielleicht 89, das ist ja eine schwierige Lage mit der Abwicklung des Kommunismus, aber alle nachfolgenden Revolutionen, ich nehme jetzt nur mal die größeren, nicht so kleinere, waren im Wesentlichen Ausdruck einer stark rückständigen Gesellschaft.

Schon Frankreich 1789 war hinterherhinkend hinter England, und im 19. Jahrhundert ist Frankreich geradezu klassisch abgestiegen gegenüber England, und Russland und China, die haben heute noch Probleme, die Kosten ihrer damaligen Revolution aufzuarbeiten, denken Sie nur an Kuba. Also wenn Revolutionen ...

Timm: Das ist jetzt sehr viel auf einmal, Herr Zimmermann. Ich möchte gerne diesen Gang in Siebenmeilenstiefeln mal wieder in Ägypten erden, soweit wir das können von hier aus. Es ist ja ernüchternd, dass man in Ägypten doch für mehr Demokratie auf die Straße ging, und zwar auch wirklich überzeugend. Es waren ja nicht ein paar Leute, die demonstriert haben, es waren Hunderttausende, und nun hat man Repression und Gewalt geerntet. Ist das typisch?

Zimmermann: In einem autoritären Regime gibt es immer Leute, die furchtbar gelitten haben, die sich rächen wollen, dann gibt es Leute, die mehr erwarten von den Reformen und denen das nicht weit genug geht, dann gibt es gerade bei all diesen sozialen Prozessen, bei diesen Ländern dort mit großem Bevölkerungsdruck eine unübersehbare Masse an Jugendlichen, die tendenziell leichter zur Gewalt verfügbar sind, wenn die Waffen leichter erhältlich sind.

Dann können aus kleinen Rempeleien schon Gewaltakte entstehen, und wenn dann die Polizei als korrupt gilt, als dem alten Regime verhaftet, und die Armee lange nicht eingreift, und dann in der jetzigen Weise, dann haben Sie natürlich vielfältige Gewaltspiralen - jetzt sind ja auch die Christen, die Kopten davon betroffen -, und die wieder einzuhegen, ist also eine fast unmögliche Situation.

Timm: Es wird immer sehr politisch argumentiert, wenn man auf Ägypten schaut. Welcher Aspekt ist eigentlich wichtiger, der politische Wille oder die Armut im Land und die Bildungslosigkeit unter den Massen, die eben auch diese islamischen so starken Tendenzen begründet, dass man eben im Land selber eine tiefe Spaltung hat?

Zimmermann: Ja, also Bildung ist sicherlich der wichtigste Faktor, zumal unter pluralisierten Bedingungen, das heißt, die Frauen müssen an der Bildung teilhaben. Und dann senkt sich langfristig vielleicht die Geburtenrate, und dann ist der Bevölkerungsdruck nicht so stark, Huntington hat das alles sehr klar analysiert. Was er sagt, es gibt zwei Probleme im Vorderen Orient, es fehlt ein regionales Ordnungszentrum - Ägypten könnte es sein, hat aber nicht die wirtschaftlichen Mittel und wird auch in dem politischen Machtkampf zwischen Saudi-Arabien und dem Iran hin- und hergeschoben -, und das andere ist der Bevölkerungsaufbau mit 80 Prozent Jugendlichen, die dann auch wieder zu 80 Prozent - je nachdem, wie Sie jugendlich definieren, bis 30 Jahre - unterbeschäftigt oder gar nicht beschäftigt sind.

Und das ist ein riesiges Problem, tendenziell haben wir das auch in den Industriestaaten, da muss man immer wieder neue Formen der Beschäftigung finden, aber in diesen Ländern ist das absolut katastrophal, man kann eigentlich nur hoffen, dass irgendwann mal industrielle Erfindungen kommen, die nicht nur Arbeitsplätze wegrationalisieren, sondern auch Leute dort ernähren können.

Timm: Und wann, hoffen Sie, wird die Zeit der Unruhe in Ägypten vielleicht beendet sein können?

Zimmermann: Ich kann mir eigentlich nur denken, jetzt wird es ja wieder über die Bande gespielt, Saudi-Arabien bestärkt das ägyptische Militär, Israel setzt auf das ägyptische Militär, also in Nahost wird immer über die Bande gespielt, und ich kann mir eigentlich als Szenario vorstellen, das aber an Dramatik langsam gewaltig ist, wenn die Amerikaner sich wirklich aus Nahost stärker zurückziehen sollten, dann hören ja auch die unehrlichen Verhältnisse in Saudi-Arabien auf, ein Land, das mit Amerika die Rohstoffe teilt und sich außenpolitisch schützen lässt, aber innenpolitisch als Regimeform keinen hinreichenden Kredit hat.

Dann muss Israel konzilianter werden, aber in der Situation haben natürlich die Chinesen mit ihrem Rohstoffbedarf und Russen mit ihrem Bedarf auch zu stören, damit die anderen nicht zu groß werden, andere Süppchen zu kochen.

Timm: Also, weil alles mit allem zusammenhängt, würde das noch ne ganze Zeit dauern.

Zimmermann: Das wird eine riesige Zeit dauern.

Timm: Ekkart Zimmermann, emeritierter Soziologieprofessor aus Dresden und Revolutionsforscher, war bei uns hier im "Radiofeuilleton" im Gespräch, ich danke Ihnen herzlich!

Zimmermann: Danke, Frau Timm!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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