Erziehung

Lasst Kinder so sein, wie sie sind

25. Weltkindertagsfest in Berlin
Sichere Bindungen zu Erwachsenen sind für aufwachsende Kinder mit am Wichtigsten, sagt Kinderarzt Michael Hauch. © picture alliance / dpa / Foto: Jörg Carstensen
Von Susanne Billig · 31.07.2015
"Kindheit ist keine Krankheit" heißt das Buch von Kinderarzt Michael Hauch. Es ist ein gut geschriebener Ratgeber vor allem für Eltern, die alles perfekt machen wollen. Müssen sie nicht, sagt Hauch. Jedes Kind ist anders und deshalb mahnt er: "Hört auf Kinder zu normieren".
Der Kinderarzt beruhigt die Eltern: Ihr Sprössling sei ein "late talker" und werde bald ebenso gut sprechen wie Altersgenossen. Doch die Eltern bringen den Jungen zum Ohrenspezialisten. Der bestätigt, dass dem Kind organisch nichts fehlt, verschreibt aber, obwohl das gar nicht sein Metier ist, 60 Stunden Logopädie. Nach der Therapie spricht der Junge mit keinem Erwachsenen mehr – auch nicht mit seinen Eltern.

In seinem fachlich fundierten, erfahrungsgesättigten Buch "Kindheit ist keine Krankheit" schildert der Kinderarzt Michael Hauch gemeinsam mit Koautorin Regina Hauch dutzende solcher Fallgeschichten. Auch wenn sich die meisten Kinder in ihren Familien gut aufgehoben fühlen – eine nicht unerhebliche Minderheit kämpft mit massiven Problemen, die auf das Konto der Erwachsenen geht: Wenn Eltern in finanziellen und zeitlichen Dauerstress gedrängt werden und niemals Zeit für beglückende gemeinschaftliche Tätigkeiten finden, wenn Perfektionswahn die Kindheit überschattet, wenn Lebhaftigkeit und Impulsivität als Krankheiten geahndet werden und Ärzte eher Therapien verschreiben, als eingehende Gespräche zu führen, dann ist das Leiden der Kinder vorprogrammiert, erklärt Michael Hauch und liefert dazu interessantes medizinisches und psychologisches, aber auch bildungs- und gesundheitspolitisches Hintergrundwissen.
Jedes Kind folgt seinem eigenen Entwicklungsplan
Auch handwerklich überzeugt dieses Buch – gut strukturiert und zupackend geschrieben, dabei im Ton stets klar und reflektiert. Vor allem möchte der Autor seinen Leserinnen und Lesern praktisches Know-how an die Hand geben. So fächert er übersichtlich auf, was ein Kind in welchem Lebensalter könnten sollte – und was eben auch nicht. Die Botschaft lautet: Jedes Kind folgt seinem eigenen Entwicklungsplan, die Verläufe streuen erheblich. Therapien sind in den häufigsten Fällen, in denen aufgeregte Eltern oder Erzieher darauf drängen, überflüssig und stürzen die Kinder in Verwirrung – abgesehen davon, dass Therapie-Einträge in der Krankenkassenakte die gesamte berufliche Zukunft des Kindes negativ beeinflussen können. Entwicklungspsychologisch betrachtet ist meist erst dann Sorge angebracht, wenn ein Kind verlernt, was es schon einmal konnte, betont der Fachmann.

"Hört auf Kinder zu normieren", mahnt er – zumal die angelegten Raster beispielsweise für Sprachkompetenz oft überaltert sind und gesellschaftlichen Tatsachen wie Einwanderung überhaupt nicht angemessen Rechnung tragen. Hört auf, eure Kinder nach starren Rastern zu beurteilen. Lasst die Luft überhöhter Ansprüche raus und die Vielfalt des Lebens rein in Kindheit und Erziehung. Denn auch Eltern setzen sich viel zu sehr unter Druck, wollen ein perfektionistisches Übersoll erfüllen, wo Kinder im Grundschulalter doch vor allem eines brauchen: Sichere Bindung und Erwachsene, die sich mit ihren starken und schwachen Seiten erfahrbar machen, so dass das Kind an ihrem Beispiel den Umgang mit allen Aspekten des Lebens lernen kann.

Michael Hauch: "Kindheit ist keine Krankheit - Wie wir unsere Kinder mit Tests und Therapien zu Patienten machen"
Unter Mitarbeit von Regina Hauch. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015
Paperback, 14,99 Euro
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