Erzählungen der Revolte

13.12.2010
Neben Faktoren wie ungerechter Gesellschaftsordnung oder Wirtschaftskrisen sei für die Entstehung von Revolutionen besonders wichtig, was es für Erzählungen über Revolutionen gibt, urteilt der Historiker Eric Selbin. Entsprechend untersucht er den narrativen Faktor revolutionärer Aufbrüche.
Für Karl Marx bestand die Geschichte nicht nur aus Klassenkämpfen, sondern auch aus einer Abfolge von Kostümfesten. Gerade in Epochen revolutionärer Umwälzungen beschwören die Menschen "die Geister der Vergangenheit in ihren Dienst herauf, entnehmen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen."

Deshalb reicht es nicht, ökonomische Prozesse, materielle Verelendung und soziale Bedingungen zu analysieren, wenn man Revolutionen verstehen will. Ungerechte Verteilung von Land, Gütern, Reichtum und Macht gab und gibt es ständig und vielerorts; Revolutionen dagegen sind selten.

"Die These dieses Buches lautet, dass der entscheidende Faktor zur Erklärung, wie und warum Revolutionen entstehen, die Geschichten von Revolution, Rebellion und Widerstand sind, die wir erzählen", schreibt der texanische Politologe Eric Selbin in der Einleitung von "Gerücht und Revolution". Dieser menschliche, "narrative" Faktor werde von der Wissenschaft meist übersehen. Fiktionen sind ebenso wichtig wie Fakten.

Deshalb werden immer wieder spezifische Mythen des revolutionären Aufbruchs aktiviert. Besonders wichtig sind dabei unvollendete Revolutionen, deren Versprechen nicht eingelöst oder die verraten wurden. Dazu gehörte die Französische Revolution, über die der Historiker Furet schrieb: Sie hatte einen Anfang, aber kein Ende – "ein Versprechen von solchem Ausmaß, dass es unendlich dehnbar wird".

Revolutionen haben selbst eine narrative Struktur: mit Anfang, Steigerungen und Höhepunkten, mit zahlreichen Haupt- und Nebenfiguren. Wie jeder Popstar geht auch jeder politische Held in den Spuren eines anderen Helden. Bei einer Christusfigur wie Che Guevara oder einem Freiheitskämpfer wie dem Italiener Giuseppe Garibaldi, dem Guevara des 19. Jahrhunderts, wird das besonders deutlich: Sie haben Nachfolger auf allen Kontinenten gefunden. Mit gutem Grund:

"Geschichten von individueller Tapferkeit sind meist inspirierender als abstrakte Ideale."

So erweist sich die Geschichte der Revolutionen als Geschichte der Spiegelungen und Echos, Imitationen und Variationen.

Ein Problem für die wissenschaftliche Untersuchung besteht darin, dass die Revolutionäre über ihre Psychodynamik keine offiziellen Verlautbarungen machen. Lieber reden sie von Armut und Ungerechtigkeit. Deshalb bleibt Selbin – nach etwas umständlichen methodologischen Erwägungen und theoretischen Absichtserklärungen – im zweiten, gut lesbaren Teil seines Buches kaum anderes übrig, als die Geschichte der Revolutionen noch einmal zu erzählen.

Er teilt sie ein in drei plausible Typen: zivilisierend-demokratische, befreiende und soziale. Hinzu kommen die verlorenen und "vergessenen" Revolutionen, die oft besondere Ausstrahlung entwickeln: So stand die russische Oktoberrevolution in der Nachfolge der Pariser Kommune von 1871, die von der französischen Erinnerungskultur wegen Wiederholungsangst lange verdrängt wurde.

Selbin hält sich zurück mit kritischen Wertungen. Revolution ist für ihn in fragwürdiger Einseitigkeit immer eine Verheißung; die realen Schrecken, Zerstörungen, Morde spielen eine untergeordnete Rolle. Hier interessiert die Revolution tatsächlich als "Gerücht": von der Möglichkeit der Schaffung einer besseren Welt.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Eric Selbin: Gerücht und Revolution. Von der Macht des Weitererzählens
Aus dem Englischen von Leandra Viola Rhoese
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010
288 Seiten; 39,90 Euro