Erzählerisches Chamäleon

Rezensiert von Jörg Magenau · 28.09.2006
David Mitchells "Wolkenatlas" als grandiosen Roman zu bezeichnen, wäre untertrieben. Denn es sind sechs Romane, von denen jeder im vorigen steckt wie in einer Schutzhülle. Das Organisationsprinzip lässt sich mit einer Metapher beschreiben, die Mitchell einer seiner Figuren, einem Physiker, in den Mund legt. Allerdings erklärt er damit nicht die Romanstruktur, sondern den Verlauf der Zeit, den er sich als "eine unendliche Matrioschka aus gemalten Augenblicken" vorstellt.
"Jede Puppe (die Gegenwart) wird von anderen Puppen (früheren Gegenwarten) umschlossen, die ich die reale Vergangenheit nenne, die von uns aber als virtuelle Vergangenheit wahrgenommen wird. Gleichfalls umschließt die Puppe des 'Jetzt' die Puppen künftiger Gegenwarten, die ich die reale Zukunft nenne, die von uns aber als virtuelle Zukunft wahrgenommen wird."

Es ist das letzte, was diese Romanfigur denkt, denn im selben Augenblick explodiert das Flugzeug, in dem sie sich befindet.

Sechs Zeitschichten, sechs Geschichten. Über 700 Jahre - von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in eine ferne Zukunft - spannt Mitchell den historischen Bogen dieses großen Panoramas. Die einzelnen Abschnitte sind mit bewundernswerter Raffinesse und Eleganz miteinander verknüpft, lassen sich aber auch einzeln lesen. Dann sind es immer noch sechs faszinierende Romane in einem einzigen Buch, einer spannender als der andere, und jeder in einer eigenen, Zeit und Ort gemäßen Sprache.

Der 1969 im englischen Southport geborene David Mitchell ist ein erzählerisches Chamäleon, das sich scheinbar mühelos den unterschiedlichsten historischen Epochen und Genres anzupassen vermag. Kritiker in seinem Heimatland fragten sich, welche erzählerische Stimme wohl seine eigene sei - eine absurde Frage bei einem, der die Komplexität und die Vielfalt liebt. Schon sein Erstlingsroman "Chaos" versammelte neun Erzählerstimmen rund um die Welt. Im "Wolkenatlas" - seinem dritten Roman und dem zweiten, der auf deutsch vorliegt - hat er dieses Prinzip zur Meisterschaft gebracht.

Die äußerste Hülle, also Anfang und Schlusskapitel, ist ein Seefahrer- und Abenteuerroman im Stile Melvilles. Die zweite Schicht ist ein Künstlerroman aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, der naturgemäß in Briefen erzählt wird und zur Not auch von Thomas Mann stammen könnte. Schicht Nummer drei ist ein Thriller über Korruption in der Atomindustrie in Reagans Kalifornien im Jahr 1975, der sich liest wie ein Stück aus der Romanfabrik von Michael Crichton.

Es folgt ein Schundroman aus dem England der Gegenwart, in dem ein Kritiker ermordet wird und ein von Gläubigern verfolgter Verleger Zuflucht in einem Altersheim des Grauens findet: Bodo Kirchhoff vielleicht, oder Martin Walser. Schicht fünf ist ein düsterer Science Fiction, der in einem Herrschaftssystem des 22. Jahrhunderts angesiedelt ist, das die nordkoreanische Diktatur mit dem Kapitalismus Südkoreas zu einer "Konzernokratie" verschmolzen hat. Wer da an Orwell denkt, liegt nicht ganz falsch, doch Orwell gehört in diesem Universum zu den "späten englischen Optimisten".

Im Zentrum des Romans ist schließlich die fernste Zukunft eingeschlossen. Sie führt zurück in eine archaische Gesellschaft, wo primitive Insulaner ein Dasein als Ziegenhirten führen. Erzählt wird hier nur noch mündlich, Literatur und Schrift gibt es schon lange nicht mehr, und die Sprache ist seltsam verstümmelt. "Eines Tages muss eine gänzlich räuberische Welt sich selbst auffressen", prophezeite schon in der äußersten Schicht ein Seereisender, der selbst ganz und gar nach dem Motto fressen und gefressen werden lebt.

Seine Prognose zieht sich als historische Perspektive durch alle Romanteile. Niemandem ist zu trauen, schon gar nicht den nächsten Vertrauten. Machtgier, Bereicherung, Korruption und Verschlagenheit sind die dominierenden Faktoren der Geschichte. Diejenigen, die dagegen ankämpfen - und von solch seltenen Exemplaren erzählt Mitchell - stehen immer wieder auf verlorenem Posten.

Gegen diese wenig optimistische Chronik einer historischen Regression setzt Mitchell die verschwenderische Lust am Erzählen. Der Übersetzer Volker Oldenburg hat diesen Glanz bewahrt - und mehr als das. Es ist ihm gelungen, Mitchells Sprachspielereien, seine Neologismen und den von Kapitel zu Kapitel veränderten Stil im Deutschen neu zu erfinden. So ist "Der Wolkenatlas" auch in der nun vorliegenden Übersetzung ein literarisches Ereignis.


David Mitchell: Der Wolkenatlas
Roman. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
Rowohlt Verlag, Reinbek 2006
668 Seiten, 24,90 Euro