Erzählband "Tomaten"

Die Spuren des Krieges

Im Mai 1989 werden Opfer stalinistischer Verfolgung aus einem Massengrab in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik exhumiert.
Im Mai 1989 werden Opfer stalinistischer Verfolgung aus einem Massengrab in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik exhumiert. © imago/ITAR-TASS
Von Martin Sander · 07.01.2015
Eindrücklich und schonungslos erzählt der russische Autor Reed Gracev von den seelischen Wunden, die Zweiter Weltkrieg und Stalins Herrschaft in den Menschen hinterlassen haben - und in ihm. Denn er war selbst Kriegswaise und psychisch krank.
An einem Verkaufsstand am Baikalsee türmt eine Frau sonntags Tomaten zu Pyramiden auf. Ihr Partner, Gehilfe oder Chef – so genau erfährt man es nicht – hat die Frau in einem nagelneuen Moskvič herbeichauffiert und verschwindet daraufhin anschließend mit einer Flasche Wodka am Seeufer oder neben dem Auto. Hat er die Flasche leer, schleudert er sie mal in den Bajkal, mal an die Wand der Verkaufsbude. Weil die Frau hohe Preise verlangt und sich auf keinen Handel mit ihren Kunden einlässt, bleibt sie fast immer auf der Ware sitzen. Am Ende der missglückten Verkaufsaktionen fährt das merkwürdige Paar kommentarlos davon. Der Moskvič schlingert die Straße entlang. Unglück und Unnahbarkeit teilen sich in dem mit, was unausgesprochen bleibt.
Erzählungen erscheinen jetzt erstmals auf Deutsch
Die seelischen Zerstörungen, die der Zweite Weltkrieg und die stalinistische Gewaltherrschaft anrichteten, ziehen sich als Leitmotiv durch die Prosa des Russen Reed Gračev. Weltberühmte Dichter wie Joseph Brodski oder Andrej Bytow haben in Gračev ihr literarisches Vorbild gesehen. Dabei kannte man diesen Künstler stets nur in den engen Künstlerkreisen. Außerhalb der Sowjetunion wusste man kaum etwas von ihm. Nun liegen erstmals acht Erzählungen Gračevs auf Deutsch in der Friedenauer Presse vor. Im Original entstanden diese Texte in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren, der Ära des Sowjetreformers Chruschtschow.
In der Erzählung "Der Zahn tut weh" kommen sich ein junger Soldat und ein halbwüchsiger Schwarzfahrer im Zug nach Leningrad wider Wille näher. Der Soldat glaubt naiv-kleinbürgerlich an den Sinn der herrschenden Ideale, während der Schwarzfahrer auf seinem Protest gegen die Ordnung beharrt. Wenn ihm der Zahn weh tut, will er den Schmerz spüren, während der Soldat ihm zu einem Zahnarztbesuch rät.
Andere Geschichten handeln von einem durchgedrehten, von Kriegserlebnissen traumatisierten Panzerfahrer, der seine Umgebung drangsaliert oder von Schießübungen in einem Militärlager, das man auf dem Gelände eines Massengrabs abhält. Und: Immer wieder geht es den Überlebenskampf von Kriegswaisen. Zu denen gehört auch der 1935 in Leningrad unehelich zur Welt gekommene Gračev. Mutter und Großmutter verhungerten während der deutschen Blockade der Stadt. Der Junge lebte in verschiedenen Heimen im Osten Russlands, kehrte erst 1953 nach Leningrad zurück. Er studierte Journalismus und wandte sich der Literatur zu. Ohne Kompromisse einzugehen, folgte er seinem persönlichen Blick und provozierte damit den staatlichen Kulturbetrieb.
Faszinierender Erzähler
Veröffentlichen konnte Gračev zu Zeiten der Sowjetunion nur wenig. Krankheiten, Psychatrieaufenthalte: Der Künstler litt schwer unter der Sowjetgesellschaft, gegen die er aufbegehrte. Auch im postsowjetischen Raubtierkapitalismus wurde er nicht heimisch. Sein Leben endete 2004 in Petersburg.
Es ist Peter Urban, dem 2013 verstorbenen großen Übersetzer und Kenner russischer Literatur zu verdanken, dass das deutsche Publikum nun Zugang zu Reed Gračev finden kann - einem faszinierenden Erzähler und schonungslosen Kritiker totalitärer Welten.

Reed Gračev: Tomaten. Acht Erzählungen
Aus dem Russischen von Peter Urban, herausgegeben von Brigitte von Kann
Friedenauer Presse Berlin 2014
144 Seiten, 16 Euro

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