Erzählband

Irrationale Grausamkeiten

Eine verschwommene Hand verstellt den Blick zum Fenster, aufgenommen in Köln am 16.04.2011.
Konzentrierte Ansichten aus dem Innenleben von Menschen, die sich verrannt haben. © picture-alliance / dpa / Maximilian Schönherr
Von Rainer Moritz · 06.09.2014
Umfallende Schauspieler, erwürgte Kaninchen, ein verendendes Küken. Es wird viel gestorben bei der dänischen Autorin Dorthe Nors. Warum trägt ihr Erzählband mit kunstvoll verknappten Alltagsgeschichten wohl den Titel "Handkantenschlag"?
Bereits im Jahr 2008 veröffentlichte die 1970 geborene Dänin Dorthe Nors – nachdem sie zuvor fünf Romane vorgelegt hatte – ihren Erzählungsband "Handkantenschlag". Im Frühjahr dieses Jahres in einem Verlag in den USA erschienen, fand er dort einige Beachtung, zumal der "New Yorker" ein Jahr zuvor Nors’ Erzählung "Der Reiher" vorabgedruckt hatte, und gelangte auf diesem Wege zum Hamburger Osburg Verlag.
15 schmale Erzählungen präsentiert Dorthe Nors, 15 Erkundungen menschlicher Abgründe, reichlich mit bitterer Ironie getränkt und ohne jede Ambition, psychologisch triftige Lösungen dafür anzubieten, warum sich die Figuren so einsam und verwirrt durch unsere Gegenwart schlagen.
Vom prächtigen Kopenhagen bis in die tiefe Provinz
Angesiedelt sind Nors’ Kurzgeschichten meist in ihrer dänischen Heimat, mal im prächtigen Kopenhagener Frederiksberg-Park, mal in den Vorstädten der Hauptstadt, mal in der tiefen Provinz. Einmal, in "Die große Tomate", wagt sich die Autorin nach New York City, nach Lower Manhattan, ins Penthouse der dänischen Familie Bang. Deren Zugehfrau kommt in Kontakt mit einem Gemüseausfahrer, der eine falsch gelieferte kiloschwere Tomate zurücknehmen muss. Beide erzählen sich aus ihrem glanzlosen Leben, gehen zur Brooklyn Bridge und kommen sich Schritt für Schritt näher:
"Dann greife ich nach dem Lenker seines Fahrrads und wir gehen zusammen über die Brücke. Er und ich und die Tomate."
Detaillierter geht es in diesen Geschichten selten zu. Es sind konzentrierte Ansichten aus dem Innenleben beschädigter Menschen, die unglückselige Beziehungen hinter sich haben, sich ein Leben lang nicht von ihren Familienbanden lösen können und sich in Hirngespinste verrennen. Wie jener Beamte im dänischen Außenministerium, der Buddhist wird und keinen Zweifel hat, zum Chef einer internationalen Hilfsorganisation aufzusteigen. Wenig später sehen wir ihn in seinem Büro wieder, mit einem Benzinkanister in der Hand und mit der Überzeugung, unkündbar zu sein:
"Noch nie hat man einen großen Einzelgänger feuern können: Stalin, Hitler, Mutter Teresa, Nelson Mandela, den Dalai Lama."
Triste und absurde Alltagssituationen
Es wird viel gestorben bei Dorthe Nors. Schauspieler fallen jählings von der Bühne, Kaninchen werden erwürgt, ein Entenküken verendet im Backofen, eine Frau entledigt sich ihres Partners per "Handkantenschlag", und ein Ehemann, der die Nächte vor seinem Computer verbringt, googelt die Serienmörderinnen Dagmar Overby und Aileen Wuornos, sich dabei ausmalend, wie sich deren Nachfahren wohl fühlen müssen. Eine wie selbstverständlich einherkommende, geradezu irrationale Brutalität waltet in diesen eindringlichen, kunstvoll verknappten Erzählungen. Dorthe Nors hat ein, stilistisch sicheres, Gespür dafür, triste, absurde Alltagssituationen in beklemmend-groteske Bilder zu packen: Bilder von Menschen, die Selfies machen und dabei so gern "wie andere Menschen auf ihren Fotos" aussähen.

Dorthe Nors: Handkantenschlag
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Osburg Verlag, Hamburg 2014
169 Seiten, 17,99 Euro

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