Erstürmung der Stasi-Zentrale vor 25 Jahren

"Ereignis von Weltbedeutung"

Roland Jahn, der aktuelle Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde
Roland Jahn, dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, geht es um die individuelle Verantwortung der früheren Stasi-Mitarbeiter. © dpa / picture-alliance
Roland Jahn im Gespräch mit Dieter Kassel · 15.01.2015
Als ein "historisches Ereignis von Weltbedeutung", bezeichnet Roland Jahn den Tag, an dem Tausende DDR-Bürger die Stasi-Zentrale in Ost-Berlin stürmten. Heute ist Jahn Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen - und blickt kritisch auf die Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Roland Jahn erinnert sich noch gut an die Wut der Menschen, die dem Treiben der Stasi ein Ende setzen wollten - aber auch an jene, die dafür sorgten, dass alles besonnen ablief: "Es ging darum, die Akten zu sichern." Jahn war damals Journalist. "Es ist ein historisches Ereignis gewesen von Weltbedeutung, dass erstmalig eine Geheimpolizei besetzt worden ist und die Akten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden", sagt er.
Mehr die Diktatur insgesamt in den Blick nehmen"
Später sei der Blick auf die SED-Diktatur zu oft auf die Stasi fixiert gewesen: "Bei der Aufarbeitung sollten wir doch mehr die Diktatur insgesamt in den Blick nehmen, den Alltag auch in der Diktatur betrachten und so auch die Verantwortung jedes Einzelnen herausfordern."
15. Januar 1990: Menschen stürmen die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit.
15. Januar 1990: Menschen stürmen die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit.© dpa / picture-alliance / Peter Zimmermann
Der Ort der Schreibtischtäter
Die gestern eröffnete Ausstellung in der ehemaligen Stasi-Zentrale nimmt Jahn gegen der Vorwurf in Schutz, erneut stehe zu sehr das Ministerium für Staatssicherheit im Mittelpunkt. "Sie fixiert sich auf den Ort - auf den Ort der Schreibtischtäter." Es gehe darum, die individuelle Verantwortung herauszustellen. Eine umfassende Ausstellung zur SED-Diktatur und ihrem Alltag müsse erst noch geschaffen werden.

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Wenn man zurückblickt auf das Jahr 1990 in Deutschland, dann kann man fast jeden Tag an irgendetwas erinnern, was vor genau 25 Jahren passiert ist, so aufregend war dieses Jahr. Aber heute ist einer von den Tagen, an den kann man nicht nur, da muss man erinnern. Vor genau 25 Jahren stürmten aufgebrachte Bürger die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg.
O-Ton Konrad Weiß: Ich bin Konrad Weiß von der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt. In der Normannenstraße haben sich viele Zehntausend Bürgerinnen und Bürger versammelt, um ihrem berechtigten Zorn über die Praktiken des Staatssicherheitsdienstes Ausdruck zu geben.
Menge: Stasi raus! Stasi raus! Stasi raus!
O-Töne: Was haben Sie da gefunden?
Ich will meine eigene Akte finden. Das ist erst mal der Sinn der Sache. Ich will wissen, was steht in meiner Akte drin!
Haben Sie sich das hier so vorgestellt?
Das ist unfassbar. Über jeden und alles ist hier scheinbar was aufgeschrieben, festgehalten.
Dann haben die Leute die Fensterscheiben eingeschlagen und haben an den Türen rumgerüttelt, bis die ersten dann drin waren, dann wurde das erste große Honecker-Gemälde rausgeholt und kaputt gemacht.
Da hinten um die Ecke stehen Säcke, reserviert privat für den Genossen sowieso, drei große Säcke.
Was ist da drin?
Alle schönen Fleischartikel, die Sie sich vorstellen können! Säckeweise!
Ich schäme mich, so alt wie ich geworden bin, für diese Regierung. Ich habe das ja mit aufgebaut! Ich könnte weinen!
Wir appellieren an alle Bürgerinnen und Bürger, die Ergebnisse unserer friedlichen Revolution nicht auf das Spiel zu setzen. Ich bitte Sie: Keine Gewalt!
Kassel: Töne und Stimmen vom 15. Januar 1990, als Tausende, Zehntausende Bürger die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg stürmten. Roland Jahn war damals mit dabei. Heute ist er der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Schönen guten Morgen, Herr Jahn!
Roland Jahn: Schönen guten Morgen!
Kassel: Wenn Sie das noch einmal hören, was wir gerade alle gehört haben, welche Bilder kommen Ihnen dann als Erstes in den Kopf?
Jahn: Ja, schon die Wut der Bürger, die dem Treiben der Stasi ein Ende setzen wollten. Aber auch dann die Menschen vom Neuen Forum, die dann dafür gesorgt haben, dass das alles wieder besonnen, geordnet ablief, diese Besetzung doch auch etwas hatte, ja, was Sicherndes. Es ging ja darum, die Akten zu sichern, damit die Leute ihre Akte, die die Stasi über sie angelegt hat, auch finden.
Eine heikle Etappe der friedlichen Revolution
Kassel: Im Nachhinein ist es heute noch für Sie wichtig, dass Sie wirklich dabei waren und dass Sie das nicht nur, wie ich zum Beispiel, später im Fernsehen gesehen haben?
Jahn: Ja, das Erlebnis dort, das wühlt auch immer wieder auf und ist auch durchaus ein Motiv für unsere Arbeit heute. Mich treibt das schon ein bisschen, gerade auch dieses Erlebnis, dass die Menschen doch auch noch mit Angst da auf das Gelände gegangen sind. Man wusste ja nicht, gibt es noch Waffen, gibt es vielleicht noch Stasi-Leute, die bereit sind zu schießen. Das war auch, ja doch, noch eine heikle Etappe der friedlichen Revolution.
Kassel: Waren Sie damals wie viele andere wütend, war das für Sie etwas, was eher aus dem Gefühl heraus kam? Oder, wie Sie es schon angedeutet haben, ging es Ihnen auch konkret schon darum zu verhindern, dass Akten vernichtet werden?
Jahn: Mir ging es konkret, dabei zu sein. Ich habe damals als Journalist gearbeitet, ich habe das dokumentiert. Und wir haben dann die ganze Arbeit des Bürger-Komitees weiter dokumentiert, weil, es ging ja darum, wirklich dieses Ereignis – das ist ein historisches Ereignis gewesen von Weltbedeutung, dass erstmalig eine Geheimpolizei besetzt worden ist und die Akten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden –, dass dieses Ereignis ja doch auch begleitet wird.
Kassel: Was später dann passiert ist, die Art und Weise, wie die Akten zugänglich gemacht wurden, wie wir damit umgehen bis heute, würden Sie da sagen, das ist überwiegend gut, ist überwiegend richtig gelaufen?
Jahn: Also, ich denke, dass der Blick auf die SED-Diktatur doch oft zu sehr auf die Stasi fixiert war. Das ist aber natürlich auch der Situation geschuldet, dass die Menschen sozusagen in der Stasi das festgemacht haben, wo sie Wut drauf hatten. Die Stasi war ja auch nach dem Willen der Partei Schild und Schwert und das Machtinstrument der SED. Und bei der Aufarbeitung sollten wir doch mehr die Diktatur insgesamt in den Blick nehmen, den Alltag auch in der Diktatur betrachten und so auch die Verantwortung jedes Einzelnen herausfordern.
Wir gehen den Lebenswegen der Stasi nach
Kassel: Tut denn genau das die neue Ausstellung? Die wurde offiziell gestern Abend eröffnet und mit einem großen Bürgertag wird sie dann ab Freitag für alle zu sehen sein. Und ich habe auch schon so ein bisschen Kritik daran gehört, das täte sie angeblich gerade nicht, sie würde sich wieder zu stark auf das MfS fixieren!
Jahn: Die fixiert sich nicht sozusagen zu stark auf das MfS, sondern sie fixiert sich auf den Ort, auf den Ort der Schreibtischtäter. Es ist eine Ausstellung zur Staatssicherheit in der SED-Diktatur. Und unser Ansatz ist, gerade hier auch die individuelle Verantwortung herauszustellen. Wir gehen ganz konkret den, ja, Lebenswegen dieser Stasi-Mitarbeiter nach. Das ist ein Beitrag insgesamt. Eine Ausstellung zur SED-Diktatur, über den Alltag in der Diktatur, die muss noch geschaffen werden.
Kassel: Ich komme selber aus dem Westen, habe aber aus familiären Gründen sehr viel gerade mit Sachsen, Ostsachsen, Dresden, Bautzen, Görlitz zu tun. Und gerade nach dem, was wir in den letzten Monaten über die NSA und andere westliche Geheimdienste erfahren haben, was die so tun, höre ich dort immer wieder die Bemerkung: Na ja, jedes Land der Welt hat halt seinen Geheimdienst, muss sich schützen, unser Geheimdienst damals war die Stasi und die war auch nichts Besonderes. Sollten Sie das auch gelegentlich hören, wie reagieren Sie auf so was?
Jahn: Man darf hier auf keinen Fall gleichsetzen ... Ja, von der Systematik her gibt es einen prinzipiellen Unterschied. Ein Geheimdienst, eine Geheimpolizei in der Diktatur, in der DDR, war dazu da, die Macht der Partei zu sichern und mit Menschenrechtsverletzungen durchzusetzen. Ein Geheimdienst in der Demokratie ist dazu da, Freiheit und Selbstbestimmung zu schützen. Wenn das nicht funktioniert, dann ist die Demokratie herausgefordert, mit ihren Instrumenten dafür Sorge zu tragen, dass das nicht weiter geschieht. Und das ist der Prüfstein für die Demokratie, ob das gelingt.
Wenn es Probleme gibt, die man nicht in den Griff kriegt, kann man zumindest immer noch demokratisch diesen Geheimdienst abschaffen. Wir werden ja diese Fragen auch in unserer Arbeit mit betrachten, dort, wo es darum geht, Diskussionen zu führen, auch mit den Menschen. Wir haben zum Beispiel am Wochenende einen großen Bürgertag, wo es Veranstaltungen gibt, wo auch das diskutiert wird, was können wir lernen aus der Vergangenheit für die Probleme der Gegenwart. Und zu diesem Bürgertag in Berlin sind alle eingeladen in die Stasi-Zentrale zur Archivbesichtigung, die Ausstellung zu besichtigen, aber auch die verschiedenen spannenden Diskussionen zu verfolgen.
Kassel: Aber trotzdem, auch noch mal persönlich: Haben Sie nicht aufgrund Ihres eigenen Lebenslaufs auch manchmal das Gefühl, diese Erinnerung verblasst und es ist mehr so das Gefühl – manchmal, wenn man diese Büros sieht, kann man das gar nicht vermeiden, finde ich –, mehr so dieses Gefühl, es ist lange her und eigentlich, im Nachhinein betrachtet, ist es doch niedlich?
Jahn: Also, ich glaube, dass das nicht so ist. Ich habe gestern gerade in der Ausstellung eine Schulklasse erlebt aus Berlin, die doch festgestellt hat, wie wichtig es ist, dass sie dort gerade auch die Ausstellung am historischen Ort sieht, die doch auch erschrocken war, als sie festgestellt hat, dass es Dokumente gibt, wo ein Lehrer ihrer Schule, auf die sie jetzt gehen, damals dafür gesorgt hat, dass die Stasi Zugang bekommen hat zu den Sachen des Schülers, zu der Schultasche, wo die Wohnungsschlüssel waren, die die Stasi kopiert hat, damit sie hier eine illegale Wohnungsdurchsuchung machen kann. Das ist etwas Bewegendes, wo die Schüler gesehen haben, dass es etwas ganz Konkretes ist, an dem Ort der Täter etwas zu sehen, was mit ihrer eigenen Schule zu tun hatte.
Die Akten müssen offen bleiben
Kassel: Wie wichtig ist es eigentlich jetzt für die Zukunft, was mit den Stasi-Unterlagen passiert? Also, ob die weiter verwaltet werden von Behörden wie der Ihren und den entsprechenden Landesbehörden oder ob sie zum Beispiel ans Bundesarchiv abgegeben werden?
Jahn: Wichtig ist, dass die Akten offen bleiben. Das Türschild ist dabei zweitrangig. Und Forschung und Bildung müssen weitergehen, die Kompetenz, die erarbeitet worden ist auch in dieser Behörde, die gilt es zu sichern, das darf nicht auf der Strecke bleiben. Und deswegen wird der Deutsche Bundestag eine Expertenkommission hier beauftragen oder hat sie schon beauftragt, die genau prüfen wird, wie ist der Zustand der Aufarbeitung, wo kann was verbessert werden und in welche Strukturen werden dann auch diese Akten für die Bevölkerung zur Verfügung stehen.
Kassel: Roland Jahn war das. Er ist heute der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, war vor 25 Jahren Journalist und mit dabei bei der Erstürmung der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg. Und ich nehme mal an, Herr Jahn, Sie werden auch dabei sein ab Freitag beim großen Bürgertag in der ...
Jahn: Am Samstag ist das von 11:00 bis 19:00 Uhr, ich werde auch dabei sein. Und ich hoffe, dass viele Berliner und ihre Gäste hier diese Möglichkeit wahrnehmen, einen Einblick in das Stasi-Archiv, einen Einblick in die Zentrale der Staatssicherheit zu nehmen.
Kassel: Was man übrigens, wenn man das nicht schafft, natürlich später dann auch regelmäßig kann, die neue Ausstellung bleibt ja erhalten. Herr Jahn, ich wünsche Ihnen einen ertragreichen Tag am Samstag und danke Ihnen für das Gespräch!
Jahn: Ich danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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