Erstmals übersetztes Meisterwerk

Moderne Odysee in Italien

Ein Killerwal, der Orca, springt aus dem Wasser.
Nach dem Killerwal, dem Orca, hat D'Arrigo seine Odysee benannt. © imago / Anka Agency International
Von Maike Albath · 17.02.2015
Stefano D'Arrigos Abenteuergeschichte "Horcynus Orca", die bislang als unübersetzbar galt, schlug schon 20 Jahre vor ihrer Veröffentlichung hohe Wellen. Ein homerisches Epos von Rückkehr und Aufbruch, voll sprachlicher Gewalt.
Seit Homer ist Sizilien der Hort mythischer Begebenheiten, und daran knüpfte Stefano D’Arrigo, Jahrgang 1919 und aus der Nähe von Messina gebürtig, in der Nachkriegszeit an. Er hatte den Krieg und die Wirren nach der Kapitulation Italiens im September 1943 auf seiner Heimatinsel miterlebt, von abenteuerlichen Rückkehrergeschichten und ertrunkenen Soldaten gehört und für Zeitungen darüber berichtet. Außerdem kannte er die Fischerdörfer mit ihren archaischen Ritualen. Als D’Arrigo, der über Hölderlin promoviert hatte und sich in Rom als Journalist und Kunstkritiker durchschlug, erste Kapitel seines geplanten Romans Ende der 50er Jahre in Umlauf brachte, landete er einen Coup: Er wurde mit Preisen ausgezeichnet, veröffentlichte erste Kapitel in einer Zeitschrift, bekam einen Verlagsvertrag mit einem monatlichen Gehalt und galt als große Nachwuchshoffnung der italienischen Literatur. Neugierig erwartete man die Veröffentlichung des Werkes. Aber es sollte dauern. Erst 1975 kam der Roman heraus.
Horcynus Orca tituliert D’Arrigo seine dickleibige moderne Odyssee und spielt damit schon im Titel auf den Mörderwal an, der vor der Küste von Charybdis stranden wird. Dorthin zieht es seinen Helden ´Ndrja Cambrìa, einen Marinesoldaten, im Oktober 1943. Die Handlung umfasst nur vier Tage, aber die zeitliche Chronologie wird immer wieder von Rückblenden und Visionen durchlöchert. In Kalabrien fahndet `Ndrja nach einer Möglichkeit, nach Sizilien überzusetzen, wird von Frauen umschwärmt, den obskuren Feminotinnen, überquert Fischknochenhalden und stöbert schließlich die unerschrockene Ciccina Circé auf, die ihn auf ihrem Boot über die Meerenge von Messina bringt, geleitet von Delfinherden.
Beklemmende Geschichte über Krieg
Immer wieder umkreist der Roman die Populationen der Delfine in all ihren Eigenarten, die von D’Arrigo als Feren bezeichnet werden, einem Begriff, in dem das sizilianische Wort für Delfine firuni mit dem lateinischen ferus (wild, ungestüm) verschmilzt. `Ndrja trifft in seinem Heimatort ein, sucht seinen Vater auf, einen alten Fischer, der seinen Sohn zuerst nicht erkennt, und begegnet seiner Verlobten wieder. Unterdessen vegetiert das verwundete Fischmonster, der Orca, am Strand von Charybdis dahin. Gegen den Willen seiner Verlobten macht sich `Ndrja noch einmal auf, um die Lage der anderen Dörfer zu erkunden und findet bei einem Wettkampf den Tod.
D’Arrigo legt mit seinem Roman nicht nur ein homerisches Epos von Rückkehr und Aufbruch vor, sondern erzählt auch eine beklemmende Geschichte darüber, wie sich der Krieg in Landschaften und Menschen einprägt.
Grandioses Sprachkunstwerk
Vor allem aber ist Horcynus Orca ein grandioses Sprachkunstwerk. D’Arrigo münzt das klassische literarische Italienisch in etwas ganz Eigenes um und füllt es mit sizilianischen Ausdrucksformen an, er erfindet neue Wörter und denkt sich ganze Nomenklaturen für Fische aus. Dass sich der Übersetzer Moshe Kahn, der mit dem Deutsch-italienischen Übersetzerpreis 2015 ausgezeichnet wird und auch für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung nominiert ist, dieses D’Arrigoschen Sprachkosmos annimmt, ist ein großer Glücksfall. Er bewerkstelligt die Herausforderung mit ehrfurchtgebietender Virtuosität und unerschöpflicher Phantasie. Da ist etwas "Bromiges, Flockiges, Fadiges von Säcken und Seilen" im Meer, es gibt "verschweinte" Feren und "Flitterlitzchen", da wird "durchdelfiniert", "rumgekörpert", "eingekorbt", "getellert" und "abgemützt", und alles ist herrlich "meerisch". Mit Moshe Kahn kann man einen literarischen Schatz des 20. Jahrhunderts heben.

Stefano D’Arrigo: "Horcynus Orca"
Aus dem Italienischen übersetzt von Moshe Kahn
S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2015,
1471 Seiten, 58 Euro

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