Erster Zustrom von Gastarbeitern aus dem Süden

Von Karl F. Gründler · 20.12.2005
Nach dem 2. Weltkrieg verließen zahlreiche Deutsche ihre Heimat, wo es viele Trümmer und wenig Jobs gab. 350.000 versuchten bis 1951 einen Neuanfang in der Fremde. Das war ein Grund für die sinkenden Arbeitslosenzahlen bei steigender Industrieproduktion hierzulande. Deutsche Bosse begannen, sich im Ausland nach Arbeitskräften umzuschauen. Die Bundesrepublik vereinbarte am 20. Dezember 1955 mit Italien ein Abkommen, um den Zustrom von Arbeitern aus dem Süden zu regulieren.
Anfang der 50er Jahre litten bereits einige Branchen in der Bundesrepublik unter Arbeitskräftemangel, allen voran die Landwirtschaft und der Bergbau. Die Arbeit unter Tage war hart, so dass viele neu eingestellte Bergleute bereits nach wenigen Monaten in andere Industriezweige abwanderten. Die Bergbauunternehmen suchten mit geringem Erfolg Neukumpel in Österreich unter den Flüchtlingen aus Siebenbürgen. Italienische Arbeiter waren im Ruhrbergbau unerwünscht, wie der Unternehmerverband bei Verhandlungen im Bundeswirtschaftsministerium zu Protokoll gab. Man fürchtete:

"eine geringe Arbeitsleistung, hohe Fehlschichten und Fluktuationen, kommunistische Unterwanderung und die Verbreitung von Krankheiten. "

Der Anstoß für die tatsächliche Anwerbung von Italienern nach Deutschland kommt im Herbst 1953 aus Rom. Hier will man die defizitäre Handelsbilanz gegenüber Deutschland mit dem Export von Arbeitskräften ausgleichen. Die Bundesregierung, insbesondere der federführende Minister für Arbeit, Anton Storch, setzt dagegen weiter auf einheimische Arbeitslose und spielt auf Zeit. Der CSU-Abgeordnete Alois Niederalt sieht die Bundesregierung in der Pflicht:

"Der letzte deutsche Arbeiter muss doch erst in Arbeit sein, bevor wir an diese Dinge denken und wir müssen die Bundesregierung wirklich bitten, zunächst alle Anstrengungen zu machen, um unsere Wirtschaft und unsere Industrie zu bewegen, dorthin zu gehen, wo noch Arbeitskräfte sind, damit wir eine gesunde Dezentralisation auch in der Wirtschaft bekommen."

Allein Wirtschaftsminister Ludwig Erhard fürchtet Exportbeschränkungen mehr als die öffentliche Meinung und die Mehrheit im Kabinett. Mit Anspielungen und Andeutungen lanciert er 1954 das Thema Anwerbung von Ausländern immer wieder in die Presse.

Auf Drängen der italienischen Regierung verhandelt man bereits über ein Anwerbeabkommen. Dabei werden die wichtigsten Punkte wie Auswahl durch eine Kommission der deutschen Arbeitsverwaltung, Lohngeldtransfer und Nachwanderung von Familienangehörigen festgelegt. Für "dermaleinst" wie der deutsche Verhandlungsführer Bernhard Ehmke vermerkt.

Im Sommer 1955 schwenkt die Regierung Adenauer um. Die geplante Wehrpflicht wird die Arbeitslosenzahlen bald senken. Außerdem fürchtet man die Schweiz und Frankreich als Konkurrenten um die jetzt begehrten italienischen Arbeitskräfte. Im Oktober kündigt Wirtschaftsminister Erhard an:

"Im Hinblick auf die besonderen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt wird die Bundesregierung unverzüglich Vorbereitungen treffen, um in bestimmten kritischen Arbeitsbereichen ausländischen Arbeitskräften und deutschen Arbeitskräften im Ausland, die sich zu einer Rückkehr in die Bundesrepublik entschließen, heranzuziehen."

Daraufhin liefert die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung beeindruckende aber recht oberflächlich ermittelte Zahlen: Sie veranschlagt für 1956 einen zusätzlichen Arbeitskräftebedarf von 800.000 Menschen. Jetzt entdecken auch die wirtschaftsnahen Medien die Gastarbeiter als brauchbare Arbeitskräfte für den Aufschwung. So schreibt der Industriekurier:

"Die Vorteile, die ein Rückgriff auf Italiener dadurch mit sich bringt, dass dadurch keine Wohnungsbauballung verursacht wird, sondern die Gestellung von Baracken im allgemeinen ausreichen dürfte, sind nicht zu verkennen."

Am 20. Dezember 1955 unterschreiben Arbeitsminister Storch und der italienische Außenminister Martino das deutsch-italienische Anwerbeabkommen. In den ersten Jahren werden nur jeweils knapp 20.000 Arbeiter nach Deutschland vermittelt. Erst nach dem Mauerbau steigen die Anwerbungen, u. a. aus Griechenland, Spanien, Portugal und der Türkei steil an. Meist führen die Gastarbeiter als mobile Arbeitskraftreserve harte und schmutzige Arbeiten aus und leben in miserablen Gruppenunterkünften. Zunehmend jedoch holen sie ihre Familien nach und bleiben langfristig hier, 1973 sind es bereits knapp 4 Mio. Menschen. Aus Gastarbeitern werden Migranten.

Der deutsch-italienische Vertrag, aus handelspolitischem Kalkül geschlossen, wird so zum Beginn einer unumkehrbaren und tief greifenden Veränderung Deutschlands.