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Flüchtlingspolitik
"Bei einer Million Flüchtlinge kann Integration nicht gelingen"

Die Forderung nach einer Obergrenze für Flüchtlinge in den Bundesländern sei "normal und verständlich", findet der sächsische CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer. "Für viele ist das Wort 'Obergrenze' psychologisch sehr wichtig", sagte er im DLF. Inhaltlich stellte sich der stellvertretende Vorsitzende der Bundestags-Fraktion aber hinter die Kanzlerin, die eine bessere Sicherung der EU-Außengrenzen anstrebt.

Michael Kretschmer im Gespräch mit Christiane Kaess | 25.11.2015
    Der Generalsekretär der sächsischen CDU, Michael Kretschmer.
    Der Generalsekretär der sächsischen CDU, Michael Kretschmer. (picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    "Die Lösung liegt nicht an der deutschen Grenze", sagte der sächsische CDU-Generalsekretär, Michael Kretschmer, im Deutschlandfunk. Bei einer Million Flüchtlinge könne jedoch niemand davon ausgehen, dass Integration gelinge. Kretschmer forderte deshalb eine Neusteuerung der Flüchtlingspolitik. Diese müsse im europäischen Raum liegen.
    Zur Debatte innerhalb der Union über mögliche Obergrenzen betonte Kretschmer, dass es unterschiedliche Meinungen gebe, die aber gar nicht so weit auseinander lägen. "Bei uns wird diskutiert und um den richtigen Weg gerungen" sagte er mit Blick auf die CDU-CSU-Bundestagsfraktion.
    Auch die Position von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die Obergrenzen explizit ablehnt, sieht der Fraktionsvize durch die jüngsten Wortmeldungen nicht geschwächt: "Es gibt eine große Unterstützung für die Kanzlerin in der Sache und für die Person."

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Die große Generalaussprache zur Politik der Bundesregierung, sie ist heute der Höhepunkt der Parlamentsdebatten in der Haushaltswoche im Bundestag. Auch in den vergangenen Tagen ist die Kritik an der Bundeskanzlerin aus der Union in der Flüchtlingsfrage nicht abgeebbt, wenn auch nach dem Auftritt von Horst Seehofer beim CSU-Parteitag in München, bei dem er der Kanzlerin über Minuten auf der Bühne wie ein Oberlehrer die CSU-Position vortrug, erst einmal eine Welle der Solidarisierung einsetzte. Das war auch bei der Sitzung der Unionsfraktion zu spüren am Montag, bei der die Kanzlerin so gefeiert wurde wie seit langem nicht mehr: mit stehenden Ovationen auch aus Anlass ihres zehnjährigen Jubiläums als Bundeskanzlerin. Dem folgte aber der jüngste Vorstoß in der Diskussion um Obergrenzen in der Flüchtlingspolitik. Er kommt aus Sachsen-Anhalt. Dort hat Ministerpräsident Reiner Haseloff von der CDU in der Diskussion um die Obergrenzen oder um eine Obergrenze zum ersten Mal eine konkrete Zahl genannt. 12.000 Flüchtlinge könne sein Bundesland aufnehmen. Seine Forderung: Auch die anderen Bundesländer sollten eine solche Zahl für sich definieren. Am Telefon ist jetzt Michael Kretschmer, stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag und Generalsekretär der CDU in Sachsen. Guten Morgen, Herr Kretschmer.
    Michael Kretschmer: Guten Morgen.
    Kaess: Dieser Vorschlag von Reiner Haseloff, ist das ein weiterer Affront gegen Angela Merkel?
    Kretschmer: Nein. Das ist der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, der sich mit seiner Situation im Land auseinandersetzt, der sieht, welche Möglichkeiten es zur Unterbringung noch gibt, der sieht, welche Turnhallen und Baumärkte alle belegt sind, und der sagt, so geht es nicht weiter. Aber diese Einschätzung teilen wir ja auch in Berlin, auch die Kanzlerin. Deswegen arbeitet sie ja intensiv daran, die EU-Außengrenzen wieder so sicher zu machen, wie sie sein müssen, und den Flüchtlingsstrom einzugrenzen.
    "Dieser ungesteuerte Zustrom nach Deutschland, der ist kein Dauerzustand"
    Kaess: Aber, Herr Kretschmer, auf der anderen Seite ist ja auch ganz klar: Die Position Angela Merkels ist: keine Obergrenze. Und wenn Herr Haseloff jetzt sogar eine Zahl nennt, wie ist das denn anders zu verstehen als ein Angriff auf die Linie der Kanzlerin?
    Kretschmer: Ich glaube, vielen ist wichtig, dass deutlich wird, dieser ungesteuerte Zustrom nach Deutschland, der ist kein Dauerzustand. Wir handeln jetzt. Und für viele ist dieses Wort "Obergrenze" psychologisch sehr wichtig. In der Sache sehe ich es auch so. Die Lösung liegt nicht an der deutschen Grenze, sondern sie kann nur im EU-Raum liegen, also durch die Sicherung der EU-Außengrenzen, und da wird ein anderes Wort dann verwendet, Kontingent, also eine europäische Obergrenze, und da ist man dann von den Worten und vom Inhalt gar nicht mehr so weit auseinander.
    Kaess: Aber das heißt auch, Herr Haseloff hätte sein Anliegen anders formulieren können?
    Kretschmer: Ich halte in dieser Diskussion, in der wir gerade sind, solche Wortmeldungen für zutiefst normal und auch für verständlich. Wir sind in einer Diskussion, es gibt da ganz unterschiedliche Sichtweisen. Wir haben vor allen Dingen SPD und Grüne, die immer noch der Meinung sind, es könnten noch mehr und alle kommen, die sich verweigern einer anständigen Aufstellung Deutschlands im Bereich der Gesetze, dass wir schneller abschieben können, dass wir wirkungsvoller auch unsere Rechtssysteme durchsetzen. Das ist eigentlich das Hauptproblem, das wir derzeit haben.
    "Die Menschen haben sich Deutschland ausgesucht, Europa ausgesucht"
    Kaess: Das würde die SPD wahrscheinlich bestreiten, denn auch da spricht man ja mittlerweile von Kontingenten. - Sie haben gerade von normalen Forderungen gesprochen. Aber dann schauen wir doch mal, dass es einfach sehr viel Kritik an Merkel in der Flüchtlingspolitik gibt, dass die stark gestiegen ist auch in den einzelnen Reihen. Wir hatten den Angriff von Horst Seehofer auf dem Münchener CSU-Parteitag. Wir haben einen Bundesinnenminister, der immer wieder querschießt. Was sagt uns denn das über das Standing der Kanzlerin?
    Kretschmer: Sie haben ja zitiert die Fraktionssitzung, und man muss ja sehen: Seit zehn Jahren haben wir in diesem Land eine erfolgreiche Politik gemacht. Uns geht es besser als jedem anderen europäischen Land. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig. Wir haben die Weltwirtschaftskrise und die Finanzkrise durchgestanden. Und jetzt haben wir eine Herausforderung, die wir uns so nicht ausgesucht haben. Die Menschen haben sich Deutschland ausgesucht, Europa ausgesucht. Sie sind auf der Flucht, weil sie keine Perspektive haben nach zum Teil vier Jahren Bürgerkrieg, und jetzt müssen wir mit dieser Herausforderung umgehen. Die Kanzlerin arbeitet daran und wir werden daran gemessen, dass wir dieses Problem lösen, und zwar so, dass wir den Menschen helfen. Das wird nicht zum großen Teil in Deutschland passieren, sondern in den Regionen, aus denen die Leute kommen, und zu einem kleineren Teil in Europa, in Deutschland. Das ist ganz klar und das ist der Maßstab.
    Kaess: Herr Kretschmer, wenn Sie die Unionsfraktionssitzung gerade noch mal angesprochen haben. Hat denn Horst Seehofer letztendlich Angela Merkel einen Gefallen getan, weil nach diesem CSU-Parteitag die CDU offenbar wieder stärker hinter ihr steht?
    Kretschmer: Nein. Ich will das auch nicht bewerten. Die CDU/CSU-Fraktion ist eine Gruppe von Menschen, die jetzt seit zehn Jahren gemeinsam diese Bundesregierung trägt, die viele schwierige Entscheidungen treffen musste, Dinge, von denen wir vorher auch nicht geahnt haben, dass sie passieren, und die zusammenhält, wo eine anständige Diskussionskultur ist, die manchmal von Außenstehenden vielleicht auch etwas verwunderlich ist, aber bei uns wird diskutiert und um den richtigen Weg gerungen.
    "Diese Differenzen sind gar nicht mehr so groß"
    Kaess: Aber wir sind uns schon einig, dass der Dissens wahrscheinlich noch nie so groß war im Moment. Deswegen die Frage: Wie ehrlich ist denn dieses Schließen der Reihen im Moment?
    Kretschmer: Es gibt eine große Unterstützung für die Kanzlerin in der Sache und für die Person. Es gibt eine große auch Dankbarkeit für diese lange Zeit, die wir gemeinsam etwas bewegt haben. Und es gibt in der Frage der Flüchtlinge unterschiedliche Meinungen. Aber ich sehe, diese Differenzen sind gar nicht mehr so groß. Ich sehe ihren Ansatz, in Europa mit einem Kontingent auch zu einer Klärung zu kommen, und wenn man die 12.000 Personen, die Reiner Haseloff aufgerufen hat, mal hochrechnet, dann sind das 400.000 für Deutschland. Dann sind das 1,2 Millionen am Ende für Europa, und das ist doch eine große Ansage. Wenn das am Ende rauskommen würde, dass das Europa, dass das Deutschland leisten könnte, dann wäre wirklich ein großer Beitrag geleistet, wenn man es vergleicht mit den 25.000, die Sie gerade in den Nachrichten vermeldet haben, die Kanada beispielsweise aufnimmt.
    "Die Lösung liegt nicht an der deutschen Binnengrenze"
    Kaess: Aber dennoch bleibt die Frage: Wie kommt Herr Haseloff auf diese 12.000? Und noch dazu, wo wir eigentlich einen Königsteiner Schlüssel haben, nach dem Flüchtlinge schon verteilt werden?
    Kretschmer: Ja man muss doch aber sehen, was tatsächlich machbar ist und was vor Ort die Situation ist.
    Kaess: Aber Herr Haseloff hat ja noch nicht einmal Kriterien genannt für diese Zahl 12.000.
    Kretschmer: Ja aber noch einmal: Man muss doch mal gucken, unter welchen Bedingungen wir derzeit die Flüchtlinge aufnehmen. Bei dieser Anzahl von einer Million kann doch wirklich niemand davon ausgehen, dass hier Integration gelingen kann. Wir haben noch den Familiennachzug. Nein, wir müssen hier zu einer Neusteuerung kommen, und daran arbeiten wir auch.
    Und deswegen noch einmal: Die Lösung liegt nicht an der deutschen Binnengrenze; sie liegt im europäischen Raum. Da hat die Kanzlerin vollkommen recht. Die Einzige, die das durchsetzen kann, ist sie auch selbst. Von daher gibt es da auch in der Union, glaube ich, jetzt Zustimmung für diesen Weg, den wir gemeinsam gehen.
    "Jetzt kommen Leute aus einem völlig fremden Kulturkreis, die unsere Sprache nicht sprechen"
    Kaess: Ich möchte noch kurz dieser Zahl von Herrn Haseloff eine andere Zahl entgegenstellen. Der Fraktionschef der Linken in Sachsen-Anhalt, Wulf Gallert, hat gestern im Deutschlandfunk gesagt, Sachsen-Anhalt hätte seit der Wende jedes Jahr mehrere Zehntausend Menschen verloren, und jetzt soll schon mit 12.000 die Schmerzgrenze erreicht sein. Diese Frage hat er gestellt. Hat er recht, in diesen Dimensionen zu denken?
    Kretschmer: Das sind zwei Dinge, die miteinander gar nichts zu tun haben. Wir haben Menschen verloren, das ist richtig und das war bitter, und jetzt kommen Leute aus einem völlig fremden Kulturkreis, die unsere Sprache nicht sprechen, die auch viele Rechtsnormen, die für uns selbstverständlich sind, beispielsweise die Gleichberechtigung von Mann und Frau und ähnliche Dinge wie die Religionsfreiheit, so nicht kennen.
    Kaess: Das wissen Sie von allen, die da kommen?
    Kretschmer: Deswegen gibt es eine faktische, eine machbare Grenze, was an Integration leistbar ist, und wer diese Frage wegschiebt und darüber nicht reden will, der nährt nur Vorurteile und das kann nicht Aufgabe sein. Nein, natürlich gibt es auch in der Frage der Flüchtlingspolitik Grenzen, die einzuhalten sind. Alles ist einfach nicht machbar.
    Kaess: ... sagt Michael Kretschmer, stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag und Generalsekretär der CDU in Sachsen. Danke für dieses Interview heute Morgen, Herr Kretschmer.
    Kretschmer: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.