Erste Hilfe für Umweltflüchtlinge

Walter Kälin im Gespräch mit Ulrike Timm · 09.10.2012
Wer nach Dürren oder Erdbeben außer Landes flieht, hat kein Asylrecht - die Genfer Flüchtlingskonvention greift nur bei Krieg und politischer Verfolgung. Die "Nansen-Initiative" will das ändern - doch sie ist nicht überall willkommen, berichtet der Staatsrechtler Walter Kälin.
Ulrike Timm: Als im vergangenen Jahr hunderttausende von Menschen vor der Dürre aus Somalia flohen, da schlossen Kenia und Ägypten zuerst ihre Grenzen. Gleiches erlebten tausende Menschen aus Haiti, die vor dem Erdbeben in die Dominikanische Republik fliehen wollten. Die offizielle Begründung: Das sind keine Flüchtlinge. Und, rein rechtlich - das stimmt. Denn die Genfer Flüchtlingskonvention hilft bei Krieg und politischer Verfolgung, aber Regelungen für Tsunami-, Erdbeben-, Dürreopfer, die gibt es bislang nicht.

Jetzt befasst sich auf Anregung von Norwegen und der Schweiz die "Nansen-Initiative" mit diesem Thema - was die genau soll und will, dazu jetzt Fragen an den Berner Staatsrechtsprofessor Walter Kälin, der daran beteiligt ist. Schönen guten Tag!

Walter Kälin: Guten Tag.

Timm: Herr Kälin, an Rechtssicherheit denkt man bei Not und Katastrophen erst mal eigentlich nicht. Was genau will denn die "Nansen-Initiative"?

Kälin: Sie haben es erwähnt: Diese Personen sind keine Flüchtlinge im Rechtssinn. Meistens suchen solche Leute Zuflucht im eigenen Land, denken Sie an die großen Lager in Haiti. Ich war dort im Oktober 2010. Damals gab es 1300 Orte mit Hütten, Zelten, ganz schlechter Standard, und da wundert es nicht, dass einige Menschen in einer solchen Situation Zuflucht in einem Nachbarstaat oder sogar bei Verwandten in einem weit entfernten Land suchen, weil dort schlicht die Überlebensbedingungen besser sind. Aber das Völkerrecht sagt: Euch gewähren wir keinen Schutz. Und da muss man was machen.

Timm: Nun stehen Sie hinter dieser Initiative ja nicht nur als Staatsrechtsprofessor, sondern eben auch mit persönlichen Erfahrungen. Sie waren sechs Jahre lang Sonderberichterstatter der UNO für intern Vertriebene. Was haben Sie in diesen sechs Jahren berichtet, und wie brisant ist dieses Problem in diesen sechs Jahren geworden, die Sie dort erlebt haben? Was haben Sie erlebt?

Kälin: In diesen sechs Jahren habe ich mich vor allem mit Vertriebenen befasst, die wegen Kriegen, Gewalt und ähnlichen Ursachen fliehen mussten. Aber im Laufe dieser Arbeit habe ich dann auch gemerkt, dass Naturkatastrophen Menschen ebenso verletzlich und schutzbedürftig machen können wie der Krieg. Beispielsweise fand ich in Honduras zehn Jahre nach dem großen Hurricane Mitch nach wie vor Menschen, die wirklich im Elend lebten, mit anderen Worten keine Arbeit hatten, unter schlimmsten Bedingungen leben mussten - da habe ich auch gemerkt, dass in dieser Situation eben die Migration oder gar die Flucht in ein anderes Land relevant wird.

In Somalia besuchte ich auch 2010 die Vertriebenenlager, hörte schlimme Geschichten aus Mogadischu von Angriffen, von Vergewaltigungen, von Gewalt, aber gleichzeitig saßen in diesen Vertriebenenlagern auch Nomaden, die die letzten Tiere verloren hatten wegen der Dürre, keinen Ausweg mehr fanden. Und im vergangenen Jahr kam es dann zu einer großen Fluchtbewegung von Dürreopfern nach Kenia. Mit anderen Worten, wir sprechen hier nicht von was Theoretischem im Zusammenhang mit Klimawandel, der sich erst in Jahrzehnten vielleicht bemerkbar machen wird, sondern von ganz aktuellen Problemen.

Timm: Nun gibt es die Genfer Flüchtlingskonvention, die besagt, dass Flüchtlinge, die wegen Nationalität, Rasse, Glauben oder aus politischer Verfolgung fliehen müssen, dass die geschützt sind und auch Rechte haben. Diese Flüchtlingskonvention von 1951 gilt als eine ganz große Menschenrechtsleistung. Warum kann man die nicht einfach ausdehnen auf Flüchtlinge von Naturkatastrophen?

Kälin: Es wäre höchst problematisch, diese Konvention auszuweiten, aus einem einfachen Grund: Flüchtlinge sind Menschen, die verfolgt sind. Flüchtlinge sind Menschen, die mit der Situation konfrontiert sind, dass die Behörden, der Staat sich gegen sie wendet. Das ist eigentlich fast nie der Fall im Zusammenhang mit Naturkatastrophen. Die Regierungen sind durchaus bereit, diesen Menschen zu helfen. Sie sind oft nicht in der Lage dazu, weil sie ungenügende Mittel haben, oder weil, wie etwa in Haiti, der Staat selbst Betroffener ist. Und die beiden Dinge zusammenzusetzen, also Fälle eigentlicher Verfolgung und Fälle mangelhaften Schutzes wegen fehlender Kapazitäten, würde Dinge vermischen, die man nicht vermischen sollte.

Timm: Ganz habe ich das noch nicht verstanden, warum man es nicht erweitern sollte, so etwas wie die Genfer Flüchtlingskonvention, denn es wäre ja auf den ersten Blick und für den Laien, auch für den rechtlichen Laien, einfach natürlicher, alle diese Menschen sind in Not und Sie müssen sich mit dieser Initiative jetzt ja auch erst mal diplomatisch durch alle Instanzen arbeiten. Würde das den Hergang nicht vereinfachen, wenn man bestehenden Flüchtlingsschutz praktisch ausweitet zu Gunsten von Umweltflüchtlingen?

Kälin: In Flüchtlingssituationen wendet sich der Staat gegen seine eigenen Bürgerinnen und Bürger. Und hier nun den Eindruck zu erwecken, das sei auch der Fall im Zusammenhang mit Naturkatastrophen, würde die Sache politisch sehr, sehr viel schwieriger machen. Die Gewährung von Asyl ist immer eine negative Aussage über den Herkunftsstaat. Dieser Staat ist ein Verfolgerstaat, und diese Botschaft nun im Zusammenhang mit Naturkatastrophen aufzunehmen, macht politisch enorm große Schwierigkeiten und ist auch der Sache nach nicht berechtigt.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, wir sprechen mit dem Schweizer Staatsrechtsprofessor Walter Kälin. Die Schweiz und Norwegen haben die "Nansen-Initiative" ausgerufen, um sich für den Schutz von Umweltflüchtlingen einzusetzen. Nun wird sich das Problem weiter verschärfen, das sagen nicht nur Klimaforscher. 2010 etwa sind über 42 Millionen Menschen vor Naturkatastrophen geflohen. Eigentlich kann man sich schwer vorstellen, dass es noch Widerstände gibt gegen eine Regelung, wie sie die "Nansen-Initiative" anstrebt. Wo sind denn noch Widerstände zu überwinden?

Kälin: Es gibt drei Arten von Widerständen. Die erste Problematik ist, wer soll sich auf UNO-Ebene damit befassen? Der Hochkommissar für Flüchtlinge hat ganz klar gesagt, das wäre eigentlich unsere Aufgabe, auch wenn es hier nicht Flüchtlinge sind, rein von der operationellen Tätigkeit her geht es um eine vergleichbare Situation. Viele Staaten wollen nicht, dass UNHCR, das Flüchtlingshochkommissariat sich damit befasst. Man befürchtet, das würde die Arbeit für die politisch verfolgten Flüchtlinge schwächen.

Dann gibt es eine zweite Gruppe von Staaten, welche der Ansicht ist, das Problem sei noch nicht dringend genug, die einzelnen Staaten seien noch in der Lage, damit umzugehen, bei größeren Katastrophen könne man pragmatisch reagieren. Mit anderen Worten, es sei verfrüht, eine solche Initiative zu starten. Und dann gibt es die dritte Gruppe von Staaten, die sind der Ansicht, wie wir mit solchen Vertriebenen umgehen, das ist unser eigener Entscheid, das ist Sache unserer Souveränität, da soll sich die Staatengemeinschaft nicht einmischen.

Timm: Rühren die Argumente, die Sie uns gerade gebracht haben, nicht auch an den wunden Punkt, dass letztlich das eine politische und globale Frage ist, denn die Nachbarländer zum Beispiel, die schließen ihre Grenzen ja nicht unbedingt aus Herzlosigkeit, sondern weil sie selber arm sind und Angst haben, überrollt zu werden oder mit dem Problem allein gelassen. Letztlich ist ja auch dieses Umweltfluchtproblem global gesehen auch wieder ein Armutsproblem, oder?

Kälin: Das stimmt sehr. Es ist ein Armutsproblem. Es ist auch ein Problem schwacher Staatlichkeit, fehlender Institutionen, fehlender Kapazitäten, und deshalb gibt es nur internationale Antworten auf ein globales Problem, die wirklich Lösungen hier hinkriegen können.

Aber der politische Wille fehlt jetzt in einem formalen Prozess auf UNO-Ebene die Sache anzugehen. Deshalb setzen wir unten an. Wir sind der Ansicht, das besonders betroffene Regionen und die Staaten dort, sei es in Zentralamerika, im Südpazifik oder am Horn von Afrika, durchaus ein Interesse haben, miteinander zu diskutieren. Wir beginnen mit Konsultationen auf diesen regionalen, subregionalen Ebenen. Wir stellen dabei auch auf Forschungsergebnisse ab, werden Forschung auch initiieren, damit man besser versteht, was genau sind die Umstände, die dazu führen, dass Menschen in die Nachbarstaaten fliehen. Was genau würde es brauchen, um sie aufnehmen zu können? Was wären gute Ansätze, gute Prinzipien, um das Problem Umweltflucht bewältigen zu können?

Und wir sind eigentlich optimistisch, dass auf der Basis dieser Konsultationen sich dann so was wie ein Konsens herausbilden kann, den wir dann auf die internationale Ebene bringen können und mit den direkt betroffenen Staaten als Promotoren dieses Anliegens dürfte es dann auch möglich sein, sich nicht gleich auf eine internationale Konvention zu einigen, aber zumindest auf das, was wir "Schutzagenda" nennen, also ein Dokument, das im Detail nun aufzeigt, was gemacht werden sollte und in welchen Punkten bereits Konsens besteht.

Timm: Herr Kälin, Sie haben viel Erfahrung mit internationalen Prozessen. Wie lange, vermuten Sie, wird es dauern, bis aus der "Nansen-Initiative" eine "Nansen-Konvention" oder so etwas derartiges wird?

Kälin: Die "Nansen-Initiative" ist auf drei Jahre angelegt. Das Endprodukt sollte diese Schutzagenda sein. Und das wird dann - hoffentlich -, so hoffen wir wenigstens, den Prozess auslösen, der zu einer Konvention führen wird. Erfahrungsgemäß dauern solche Prozesse mindestens ein Jahrzehnt.

Timm: Der Staatsrechtler und langjährige UNO-Sonderberichterstatter Walter Kälin informierte uns über die "Nansen-Initiative", die sich für Flüchtlinge bei Naturkatastrophen einsetzt.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.