Erst Hammerklaviersonate, dann Skandal

06.09.2012
Ein populärer Pianist bricht scheinbar ohne Grund ein Konzert ab und alles geht drunter und drüber - auch für eine ganze Reihe von Konzertbesuchern. Alain Claude Sulzer erzählt aus wechselnden Perspektiven und verknüpft mehrere Lebensläufe zu einem vielstimmigen Episodenroman.
Unerhört - das hat Berlin noch nicht erlebt: Der Popstar des Pianos, Marek Olsberg, bricht scheinbar ohne Grund ein Konzert einfach ab. Während eines furios hingelegten Arpeggios in Beethovens Hammerklaviersonate steht er unvermutet auf, wirft ein "Das war's" in die ausverkaufte Philharmonie und verlässt auf Nimmerwiedersehen die Bühne. Was, so fragt sich das verstörte Publikum, trieb den seit Jahrzehnten umjubelten Musiker zu diesem Schritt. Der Skandal ist perfekt, und alles geht drunter und drüber, nicht nur für Olsberg selbst, sondern auch für eine Reihe von Konzertbesuchern.

Olsberg, eine Kreuzung aus Vladimir Horowitz, Alfred Brendel und Lars Vogt, ist erfunden und eine von den vielen Hauptfiguren des Romans. Psychologisch genau und höchst unterhaltsam variiert Alain Claude Sulzer ein altbekanntes Thema: Was passiert, wenn Unvorhergesehenes wie ein Blitz ins gewohnte Leben fällt. Danach ist nichts mehr, wie es vorher war, egal ob man "Täter" ist wie Olsberg, der den Stein ins Rollen brachte, ob das Geschehen schicksalhafte Züge trägt wie für Astrid, seine tief ergebene Sekretärin, die den folgenschweren Auftritt in einem Migräneanfall verschläft, oder ob sie - wie die meisten - als Zaungäste nur indirekt beteiligt sind. Zum Guten wie zum Schlechten - mitten ins Herz trifft das Ereignis alle gleichermaßen, denn es setzt erdrutschartig in Gang, was sie bislang verdrängt, schöngeredet, übersehen oder schlicht in ihrem Leben missverstanden haben.

Da ist Sophie, die ihre hochnäsige Nichte mit einem Ausflug in die Klassik besticht, um zu erfahren, dass diese eine Affäre mit ihrem verflossenen Geliebten hat; da ist der weltgewandte Johannes, der seine Konzertkarten zugunsten eines Tète-à-tètes mit Marina, einer schönen Abgesandten vom Escort-Service, verfallen lässt, weshalb er von seiner Frau unschwer als Lügner enttarnt werden wird, während Esther nach ihrer überraschend frühen Rückkehr ins gediegene Heim feststellen muss, dass ihr Mann sie seit Langem betrügt. Oder da ist der ewige Verlierer Lorenz, ein Aushilfskellner, der sich auf dem ins Wasser gefallenen Olsberg-Empfang in einer Dahlemer Villa schadlos hält, indem er die Schmuckschatulle der Dame des Hauses mitgehen lässt. Die wiederum entdeckt in dem Dieb eine pikante Abwechslung in ihrem wohlgeordneten Sponsoren-Dasein.

Sulzer erzählt virtuos, ohne Wortgeklingel, aber in sprachlicher Feinabstufung aus der stets wechselnden Perspektive seiner Figuren. Mit sicherer Hand verknüpft er deren Lebensläufe zu einem vielstimmigen Episodenroman, der sich unaufhaltsam auf sein Ziel zu bewegt, bis die Welt aus den Schienen springt. Schön, wie er als eine Art Exerzitienmeister vorführt, dass sich Ballast abwerfen immer lohnt; wie er den meisten einen Kurswechsel gönnt, eine neue Chance einräumt, auch wenn es nur die zur Selbsterkenntnis ist, was ja nicht zum Schlechtesten gehört. So betreibt er ein hintersinniges Spiel mit den Utopieträumen der Romantik. Zukunft, so heißt es da, ist erst dann denkbar, wenn wir uns nicht mehr nur in einer vergehenden, sondern immer auch in einer bevorstehenden Zeit fühlen.


Besprochen von Edelgard Abenstein

Alain Claude Sulzer: Aus den Fugen
Galiani-Verlag, Berlin 2012
232 Seiten, 18,99 Euro