Erös: Afghanistan braucht neue Frauen-Universität

Reinhard Erös im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 23.05.2012
Reinhard Erös baut eine neue Frauenuniversität im Osten Afghanistans auf - auch mit einer journalistischen Fakultät. "Die Afghanen brauchen das" - aus verschiedenen Gründen, wie Erös meint.
Liane von Billerbeck: Schule, Abitur, Studium – was für viele junge Menschen im Westen ganz normal ist, ist für andere noch immer undenkbar, vor allem für Mädchen in einem islamischen Land wie Afghanistan. Ein ehemaliger Bundeswehrarzt und Gründer der Kinderhilfe Afghanistan will das ändern.

Reinhard Erös baut, nachdem er schon 14 Mädchenschulen in Afghanistan gegründet hat, in der Provinz Lagman im Osten des Landes jetzt eine Frauenuniversität auf. Es entstehen Fakultäten für Umwelttechnologie, Rechts- und Staatswissenschaft, Agrarwissenschaft, und als erstes Fach aber soll es Journalismus für Frauen geben. Reinhard Erös, herzlich willkommen!

Reinhard Erös: Grüß Gott nach Berlin!

von Billerbeck: Immer wieder wird ja von der Rückkehr der Taliban gesprochen. Die NATO wird sich zurückziehen aus Afghanistan – da gründen Sie eine Frauenuniversität dort. Braucht Afghanistan so eine Uni?

Erös: Ich denke schon. Hier in Deutschland haben wir auch welche. Und ohne Journalismus-Studium für Frauen gäbe es in Deutschland zum Beispiel keine so tollen Journalistinnen wie Sie, nehme ich mal an jetzt, in Berlin. Also die Afghanen brauchen das auch, die möchten das auch, vor allen Dingen die Mädchen möchten das, und das habe ich jetzt im Verlauf der letzten Jahre in Dutzenden, hunderten von Gesprächen mit den Mädchen, die an unseren Mädchenschulen im Osten Afghanistans, also im Paschtunengebiet, im Talibangebiet Abitur gemacht haben, habe ich das festgestellt. Und dann brauchte ich nur noch eine Provinz, einen Gouverneur, ein Umfeld, sage ich mal, wo das realisierbar ist.

Denn wir reden jetzt nicht von Afghanistan. Afghanistan ist so vielgestaltig wie Europa. Wir reden vom Osten Afghanistans, wir reden vom Paschtunengebiet. In Afghanistan gibt es bereits 75 Hochschulen etwa, davon der Großteil private, ein kleinerer Teil staatliche – aber so gut wie keine Hochschulen gibt es im Osten Afghanistans im Paschtunengebiet, in Talibangebiet, da, wo etwa 50 Prozent der Bevölkerung leben, das ist so ein bisschen die Crux.

Und das ist genau die Gegend, wo ich, oder wo wir seit zehn Jahren arbeiten, wo wir die von Ihnen erwähnten Mädchenschulen bereits begründet haben und betreiben, und dort wollen wir jetzt auch eine Mädchenschule hin bauen.

von Billerbeck: Gab es denn Widerstand gegen so eine Frauenuniversität dort in dieser Region, die Sie eben geschildert haben?

Erös: Nein, im Gegenteil. Man muss mit den Leuten halt ...

von Billerbeck: Das ist ja überraschend, das hätte ich jetzt nicht erwartet.

Erös: Ja, weil unser Bild von Afghanistan in Deutschland und auch in anderen Ländern, das durch die Medien halt nun mal vermittelt wird – ich kriege das ja nun tagtäglich mit –, dieses Bild ist, freundlich ausgedrückt, etwas schräg, das ist etwas sehr einseitig, und da gilt dann Afghanistan als das frauenfeindlichste Land der Welt, und gerade bei den Paschtunen werden die Frauen dargestellt, als hätten sie überhaupt keinen Stellenwert.

So ist das halt nun mal Gott sei Dank in Afghanistan nicht, und wer mit den Menschen dort spricht, wenn man mit ihnen, oder ihnen in Augenhöhe begegnet, nicht als reicher Onkel aus dem tollen Westen, von oben herab sich mit ihnen beschäftigt, wenn man ihnen in Augenhöhe begegnet, wenn man bei ihnen Vertrauen hat, Vertrauen schafft, Vertrauen hat in beide Richtungen, dann funktioniert das auch bei den Paschtunen, dann funktioniert das auch im Talibangebiet.

von Billerbeck: Wie haben Sie denn die örtlichen Honoratioren von ihrem Vorhaben dieser Frauenuniversität überzeugen können? Das klingt so einfach, da kommt einer und sagt, ich will hier eine Universität gründen – so einfach ist es ja nun doch nicht.

Erös: Nein, nein, ich wollte nicht die Universität gründen. Noch mal – ich glaube, ich habe das vorher vielleicht nicht deutlich genug ausgesprochen –: Die Familien wollen das, die Töchter wollen das, die jetzt ein gutes Abitur machen. In Afghanistan ist es eigentlich wie in Deutschland vor 50 Jahren, etwa 20 Prozent der Schulabsolventen, der Gymnasialabsolventen, der High-School-Absolventen sind Mädchen, sie sind in der Regel ... haben bessere Noten, bessere Leistungsnachweise als die Jungs, möchten also auch studieren, aber das ist in Afghanistan sehr schwer möglich aus vielerlei Gründen. Das hat nicht unbedingt mit der Tradition zu tun oder dass man Mädchen nicht studieren lassen möchte, das hat mit der Geografie zu tun.

Mädchen können nicht einfach wie in Deutschland, wenn sie mal von Regensburg nach Berlin zum Studium gehen, sich dort eine Wohnung nehmen, sondern da muss man bei Verwandten wohnen, und so weiter, das ist alles sehr logistisch, sehr kompliziert, nicht so sehr ideologisch kompliziert. Der Grund, weshalb es jetzt bei uns in Anführungszeichen "geklappt hat" mit dieser Mädchenuniversität, war ganz einfach der, dass wir einen Gouverneur jetzt in dieser Provinz Lagman haben - jetzt muss man wieder ein bisschen differenzieren.

Im Osten gibt es Provinzen, wo das sicher sehr schwer wäre, eine Mädchenuniversität. In Lagman wäre das bis vor drei Jahren auch nicht denkbar gewesen, sage ich mal, da gab es einen sehr konservativen Gouverneur. Jetzt haben die einen modernen Gouverneur – also Gouverneur ist gleich Ministerpräsident – bekommen. Dieser Gouverneur war vorher Erziehungsminister in der Provinz Nangarhar, mit dem habe ich fünf Jahre auf dem Schulsektor zusammengearbeitet.

In Afghanistan ist das Schulwesen dezentral, also auf Provinzebene geordnet, das Hochschulwesen ist zentral geordnet, also nach Kabul orientiert geordnet. Das alles sind Dinge, die muss man wissen, wenn man über Afghanistan und Erziehungswesen spricht. Dieser Gouverneur also, ein ganz moderner Afghane, ein Politologe – er hat politische Wissenschaften studiert in Pakistan, ist sehr tief verwurzelt in der Paschtunentradition, andererseits aber gleichzeitig sehr modern denkend, hat auch vier Töchter –, mit dem hatte ich wie gesagt fünf Jahre in seiner Eigenschaft als Erziehungsminister, also zuständig für Schulen, für Oberschulen, wunderbar in der größten oder einer der größten Provinzen Afghanistans, in Nangarhar sehr erfolgreich zusammengearbeitet.

Und nun wurde dieser Mann vor zwei Jahren Gouverneur in der Nachbarprovinz Lagman. Lagman ist eine der kleinsten Provinzen Afghanistans, ein bisschen größer als das Saarland, halb so viel Einwohner wie das Saarland, ich glaube, die drittkleinste von 34 Provinzen. Dort ist es also leichter, weil es nicht so viele Menschen gibt, aber sehr konservativ, und dort habe ich dann mit seiner Hilfe, oder er mit meiner Hilfe, muss ich eher sagen, in monatelangen Gesprächen mit den Dorfältesten, mit den Stammesältesten, mit den Religiösen, wie wir sie nennen, also auch mit den Taliban, sie davon überzeugt, oder es kam dann zu einer gemeinsamen Überzeugung – die Afghanen haben so eine Art Konsensmodell –, dass so eine Mädchenuni, also eine Universität, an der auch oder besonders Mädchen, junge Frauen studieren können, eine Supersache wäre, auch vom Renommee für die Provinz.

Wenn die nun als Erstes eine Universität jetzt haben in zwei, drei Jahren, dann ist das wirklich eine Renommee-Sache für diesen kleinen Bundesstaat Lagman, wenn dort eine Fakultät steht für Umwelttechnik, eine Fakultät für Journalismus, eine Fakultät für Civil Law – also nicht für Scharia-Recht –, und dann auch noch Frauen dort sind, und das muss man den Leuten halt dort schmackhaft machen, indem man – noch mal – bei ihnen Vertrauen schafft, indem sie nicht das Gefühl haben, da kommt jetzt einer aus Amerika und will dort eine amerikanische Universität gründen – wie wir das zum Beispiel in Kabul haben, da ist das sehr viel schwieriger –, sondern mit ihnen abgestimmt letztlich dann gemeinsam so ein Ding auf die Beine zu stellen, und das erfolgreich ist.

von Billerbeck: Gab es da irgendwelche Vorgaben oder irgendwelche Wünsche, die als Vorgaben dann letztendlich angekommen sind, gab es so was?

Erös: Nun, wir haben natürlich lang gesprochen, welche – erst mal überhaupt eine Universität. Da gab es noch kaum Oberschulen, Lagman hat drei Oberschulen, also das ist – noch mal – eine sehr kleine Provinz, wissen Sie. Es wird dort auch keine Universität sein wie in Berlin die Humboldt-Universität oder hier bei uns in München die LMU. Das ist eine ganz kleine mit 50, 60 Studenten pro Fakultät, so wollen wir mal anfangen, mit zwei, drei Hochschullehrern. Also hier muss man auch wieder ein bisschen den Begriff Universität ... das ist nicht vergleichbar mit einer deutschen Universität, weder von der Größe her, noch von der Qualität auch her des Lehrkörpers, der Technik, und so weiter, das ist afghanisch, ja?

von Billerbeck: Herr Erös, da will ich gleich mal wissen, wenn Sie sagen, es ist eine kleine Universität, ist auch eine kleine Provinz – trotzdem die Frage: Wie macht man denn so was? Ich meine, trotzdem auch, wenn Sie da lange Vertrauensarbeit geleistet haben und einen Vorschuss hatten und mit den Leuten zusammengearbeitet haben, das kostet ja auch Geld, so was zu gründen. Wo kommt das her?

Erös: Ja, das Geld, was wir in diese Universität, wie wir es in den letzten 10 Jahren ja auch in die 30 Schulen, die wir jetzt insgesamt gebaut haben, investiert haben, das kommt von privaten Spenden. Wir nehmen keine öffentlichen Mittel, also keine Steuergelder, weder aus Deutschland vom Entwicklungshilfeministerium oder vom Auswärtigen Amt oder auch EU-Gelder oder UNO-Gelder. Das lehnen wir ab, wir machen das mit privaten Spenden, ...

von Billerbeck: Und wo sammeln Sie die Spenden ein?

Erös: In ganz Deutschland, in ganz Europa, inzwischen auch über Europa hinaus, und das läuft so halbwegs gut. Für die Universität brauchen wir natürlich jetzt wieder einen dicken Batzen, das ist ja nun nicht nur eine kleine Schule. Das wären ja dann auch entsprechend andere Gebäude: Wir brauchen eine Bibliothek, wir brauchen vor allem ein Student’s Quarter, also ein Studentenwohnheim für die Mädchen, wir brauchen eine große Mauer um die Universität herum, also Einrichtungen in Afghanistan, wo junge Mädchen, junge Frauen tätig sind.

von Billerbeck: Also Sie müssen auch dafür sorgen, dass sie sicher sind und geschützt sind.

Erös: Na ja, nicht so sehr gesichert, sondern einfach der Kultur des Landes entsprechend sich verhaltend. Die Sicherheit, das machen die Leute dort.
von Billerbeck: Das heißt, Frauen und Männer werden dort getrennt untergebracht?

Erös: Selbstverständlich ... Nein, im Unterrichtsraum selber nicht. Aber die Einrichtung als solche nach außen hin ist durch eine Mauer – wie auch unsere Mädchenschulen – durch eine Mauer sichtgesperrt gegenüber der Bevölkerung draußen. Das ist dort so üblich, zumindest im Paschtunengebiet. Das ist in Kabul vielleicht nicht so – also so eine Mauer, um mal nur ein Beispiel zu sagen, diese Mauer wird mich so viel kosten wie ein ganzes Universitätsgebäude. Das ist eine Mauer, drei auf vier Kilometer ...

von Billerbeck: Wie hoch wird die?

Erös: Ja, hoch ist nicht so das Problem, zweieinhalb Meter, aber einen Riesencampus haben wir, der ist zweieinhalb auf drei Kilometer, da kostet die Mauer etwa 600.000 Euro.

von Billerbeck: Anderswo werden sie abgebaut, und bei Ihnen werden sie wieder aufgebaut.

Erös: So ist es, so ist es. Also das sind so Dinge, wo ich mich manchmal – nicht nur heimlich, oft auch unheimlich – ärgere, dass solche Dinge, dass das immer noch in Afghanistan so langsam läuft mit dieser Kulturproblematik, was die Sichtbarkeit von fremden Frauen angeht, ja? Das wird noch eine Zeit lang dauern, bis das, glaube ich, dann ... und da ist natürlich so eine Universität für Frauen und auch für Journalistinnen dann später wahnsinnig wichtig, um diese kulturellen Hemmnisse, diese kulturellen Mauern dann auch abzubauen.

von Billerbeck: Das heißt, Sie nutzen die kulturellen Gegebenheiten, um später Leute zu haben, die gut gebildet sind, die diese kulturellen Gegebenheiten auch möglicherweise in Frage stellen.

Erös: Diese alten – aus meiner Sicht und auch aus der Sicht der meisten Afghanen, vor allem der meisten jungen Afghaninnen, der gut gebildeten –, überholten kulturellen Hürden, um die zu überwinden, völlig richtig. Und da ist einfach Erziehung, Bildung ist das Mittel der Wahl, und nicht militärische Gewalt.

von Billerbeck: Reinhard Erös sagt das. Er hat in Afghanistan eine Frauenuniversität gegründet. Der Grundstein war im Mai 2011, bald soll sie eröffnet werden. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Erös, und natürlich alles Gute für Sie und Ihre Uni!

Erös: Herzlichen Dank nach Berlin!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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