Erlebnisräume der digital vernetzten Kultur

Von Alexandra Mangel · 20.05.2011
Tallinn ist in diesem Jahr europäische Kulturhauptstadt. "Gateways" heißt der Beitrag des Goethe-Instituts. Unterstützt vom Auswärtigen Amt werden 27 Medienkünstler aus 16 EU-Mitgliedsstaaten in estischen Hauptstadt vorgestellt.
In keinem anderen Land Europas ist der Glaube an die digitale Informationstechnologie so groß wie in Estland. 70 Prozent der Esten sind Internetnutzer. Alle Schulen sind online. Das Land regiert das "E-Government", der "elektronische Staat". Die deutsche Kuratorin Sabine Himmelsbach:

"Ja, für mich war das besonders faszinierend, als ich dann da war: Man ist in der Innenstadt unterwegs, die ja erst mal einen mittelalterlichen Eindruck vermittelt! Aber der Level von "E-Culture" ist hier viel stärker als in Deutschland! Alles wird mit dem Mobiltelefon gemacht! Alle Daten sind zugänglich übers Netz für die Bürger! Ganz wichtig war mir, dass im estnischen Grundgesetz freier Internetzugang für jeden Bürger gewährleistet ist, deshalb finden Sie hier auch überall freie WLan-Netze, ob´s im Café ist oder hier im Museum ... Also das war für mich schon sehr faszinierend!"

Der Internetzugang – ein Menschenrecht. So hat sich das unabhängige Estland in den 90ern neu erfunden. Befreit von sowjetischer Herrschaft und Zensur. Die estnischen Künstler in der Ausstellung machen es sich nicht so leicht mit dem Glauben an die Freiheit der Informationsgesellschaft. Timo Toots zum Beispiel. Seine Installation füllt einen ganzen Raum – ein riesiger blinkender Apparat, der an die Kommandobrücke eines Raumschiffs erinnert! Timo Toots schiebt seinen estnischen Pass, eine kleine Plastikkarte mit Computerchip, in ein Lesegerät auf dem Armaturenbrett. Und die Daten seines Lebens erscheinen auf der Museumswand!

"Die Maschine zeigt, welche Medikamente ich verschrieben bekommen habe! Sie zeigt meine Prüfungsergebnisse an staatlichen Schulen! Auch mein Gehalt ist zu sehen, berechnet nach der Höhe meiner Steuerzahlungen! Man sieht auch, von welchen Firmen ich Geld bekommen habe! Und die Maschine durchsucht eine Datenbank, in der alle Mitglieder politischer Parteien gelistet sind, sie zeigt an, ob ich in einer Partei bin oder nicht!"

Jeder Ausstellungsbesucher mit digitalem Pass kann so seine gesammelten Daten abrufen. Und über den Stand der Technik staunen – oder erschrecken. Ein fast didaktisches Vorgehen, das viele Künstler der Schau gewählt haben. So können die Besucher das Museumsfoyer per Livestream-Kamera observieren. "Streetview"-Ansichten von Tallinn bearbeiten und umgestalten. Oder sich mit einer gruselig perfekten virtuellen Schönheit auf "Facebook" befreunden. Künstlerisch interessanter wird´s aber, wo der Besucher nicht als überwachtes und manipuliertes Objekt behandelt wird, sondern als Subjekt einer ganz eigentümlichen neuen Erfahrung – der Erfahrung der "Echtzeit"! Etwa beim britischen Künstlerduo Thomson und Craighead! Sabine Himmelsbach:

"Die beiden haben eine Software geschrieben, die zu verschiedenen Suchmaschinen online geht. Zu Altavista, Yahoo oder Google. Und was wir hier sehen, sind Suchbegriffe, die Internet-User weltweit genau in dieser Sekunde jetzt hier grade eingeben! – Zwischenfrage Autorin: Ach so, dass passiert jetzt wirklich? – Himmelsbach: Das passiert jetzt live, genau! Das ist keine Video-Projektion, sondern der Rechner ist in Echtzeit mit dem Netz verbunden und das, was wir hier sehen, wird halt von irgendjemand irgendwo grade gesucht!"

"Heiße Porno-Pics!" – "Hilfe! Migräne!" – "Wie werde ich reich?"
Ungefiltert flimmert der Fluss der Suchanfragen über die Wand der Ausstellung. Und man steht gebannt davor. Denn jetzt, genau jetzt passiert es ja! Und jetzt! Und jetzt die nächste Frage! Wie diese Echtzeit-Erfahrung unsere Bildkultur verändert, untersucht die finnische Künstlerin Hanna Haaslahti. Sie lässt Bilder, die gerade über das Internetportal "flickr" ins Netz gestellt werden, in den Ausstellungsraum schweben. Nur wenige Sekunden erscheint das einzelne Bild. Schon wird es vom nächsten überlagert. Fremde Menschen. Skurrile Szenen. Unbekannte Orte.

"Früher hatten wir Fotoalben in unsren Familien – und das waren so was wie "Familienschätze"! Es ging um Erinnerungen! Ach, also so hat meine Tante früher mal ausgesehn! Aber diese Tradition stirbt aus, denke ich!
Hier geht es um das Vorzeigen, das Ausstellen von Momenten! Es geht mehr um den Konsum von Bildern – ein bisschen wie tägliches Essen, wie Nahrung!"

Die Gegenwart kennt eine Vergangenheit und ein Gedächtnis. Was kennt die "Echtzeit"? Eine wichtige Frage für das neue, unabhängige Estland, das sich seit zwanzig Jahren so ausschließlich über den Blick nach vorn, in die verheißungsvolle Zukunft einer digital vernetzten Welt definiert – findet Ragne Nukk, die estnische Co-Kuratorin der Ausstellung:

"Es war ein Sprung auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs! Darum hieß auch eins der Programme, dass diese Netzkultur in den 90ern gefördert hat, das "Tiger-Sprung-Programm"! Estland hat einen großen Sprung gemacht, aus dem Kommunismus heraus in die Freiheit der Demokratie, mit Redefreiheit, Gedankenfreiheit und allem, was dazu gehört!"

Heute ringen viele Künstler in der Ausstellung mit der Frage, welche Gefahren von der digitalen Technik für die neu errungene Freiheit ausgehen. "Click Democracy" nennt das die italienische Künstlergruppe "Les Liens Invisibles". An die Stelle von Demonstrationen trete der Mausklick vom heimischen Soda. Und damit die Illusion von Teilhabe. Eine gewagte These. Schließlich stürzen digitale Netzwerke im arabischen Raum grade Diktaturen. Aber genau das ist die Stärke dieser Schau: Sie wirft Fragen auf und ermöglicht Kommunikation – und nichts anderes ist die Funktion eines "Gateways"!