Erlebnis-Burnout

Gipfel stürmen bis zum Gehtnichtmehr

Zwei Fahrradfahrer in Aktion während einer Mountainbike-Tour am 15.08.2006 in den Südtiroler Alpen.
Hauptsache in Aktion: Mountainbike-Tour in den Alpen © picture alliance / dpa / Marco Toniolo
Von Heiner Kiesel · 21.07.2015
Bungee-Springen, Mountainbiken, Sommerrodeln - Alpen-Forscher Werner Bätzing beobachtet eine künstliche Freizeitwelt, die nach den Anforderungen von Freizeitparks immer stärker gestaltet wird. Richtig erleben lasse sich die Bergwelt aber nur auf anderem Wege.
"Ist das nicht großartig, Die Alpen! Hier ist vor 200 Jahren praktisch der Tourismus erfunden worden. Und heute?"
Soviel Fun! Was wird nicht alles gemacht, damit es einem richtig gut geht. Und ein bisschen erschauern darf man trotzdem noch vor soviel Bergpracht. Vielleicht auf der Aussichtsplattform auf der Alpspitze, 25 Meter raus und unter Dir 1000 Meter nichts. Und wenn du dich satt gesehen hast, dann wieder runter mit der Gondel und ab in den Hochseilgarten, zum Bungee-Springen, Mountainbiken, Hallenskifahren, Sommerrodeln ....
"Das ist eine künstliche Freizeitwelt die nach den Anforderungen von Freizeitparks immer stärker gestaltet wird und es ist für mich kein Zufall, dass große Touristenzentren immer mehr Freizeitparks ähneln und dass eine Reihe von Angeboten tendenziell besser Indoor gemacht werden können als Outdoor. Denn in der freien Natur stört die Natur eigentlich immer, dann regnet es, oder es ist diesig, das ist eigentlich unangenehm."
Der Kulturgeograph und emeritierte Professor der Uni Erlangen, Werner Bätzing, ist seit gut 30 Jahren einer der wichtigsten Erforscher des zentraleuropäischen Gebirges. In dieser Zeit hat er beobachtet, wie sich die Region dramatisch verändert hat: Große Gebiete in den Alpen werden von den Menschen verlassen und verwildern. Dieser Prozess wird allerdings verdeckt dadurch, dass sich die Bevölkerung in den Tallagen, entlang der Verkehrsadern um so mehr ballt. Doch weiter oben wird es dünn. Traditionelle Bewirtschaftungsformen sterben aus und die kleinräumig angelegten und kulturell diversen Siedlungseinheiten verschwinden, beklagt der Kulturgeograph. Symptomatisch zeigt sich das auch im Tourismus.
300 große Tourismuszentren
"Wir haben etwas 300 große Tourismuszentren im gesamten Alpenraum – das sind bei 6000 Alpengemeinden fünf Prozent. Das ist keine flächenhafte Dimension, wie man das in Deutschland oftmals glaubt."
Während sich die Gemeinden unten im Tal mit immer neuen und attraktiveren Gewerbegebieten gegenseitig Betriebe, Dienstleister und Logistiklager abwerben, tobt zwischen den Tourismus-Zentren ein gnadenloser Wettbewerb um die Gäste. Ohne rechten Erfolg. In den letzten Jahren sind die Übernachtungszahlen zwar im bayerischen und österreichischen Alpenraum gestiegen. Von etwa 71 Millionen 2006 auf heute 85 Millionen. Bätzing verweist allerdings auf Studien, die für den Gesamtraum der Alpen belegen, dass der Alpentourismus eigentlich seit den 80er-Jahren auf hohem Niveau stagniert.
"Beim Skitourismus können die Alpen noch mit Mühe ein modernes, modisches Image behalten. Im Sommertourismus haben die Alpen seit Anfang der 70er-Jahre erhebliche Probleme modisch aktuell, modern zu bleiben. Da haben sie dieses verstaubte Image, das kennt jeder: Knickerbocker Hosen und karierte Hemden und im Frühtau zu Berge geht man dann halt in die Berge."
Kinderstimme: "Wandern in den Bergen, das ist so langweilig."
Der Alpenforscher Werner Bätzing
Der Alpenforscher Werner Bätzing© Foto: Heiner Kiesel
Es ist die Panik der Tourismus-Manager zwischen Bozen und Garmisch-Partenkirchen, dem französischen Gap und italienischen Friaul: Wenn wir uns nicht richtig ins Zeug legen, dann fliegen die Kunden eben für das gleiche Geld nach Mallorca und machen dort die große Sause. Also wird ordentlich geklotzt.
"Es muss immer mehr erlebt werden – bis zum Gehtnichtmehr. Deswegen spreche ich ja ganz bewusst vom Erlebnis-Burnout. Dieses System führt für mich in den Selbstwiderspruch, in die Zerstörung."
Fatale Eingriffe ins Ökosystem
Im Fremdenverkehr, so ist Werner Bätzing überzeugt, ist gegen die globale Konkurrenz ohnehin nicht zu gewinnen. Die Angebote sind austauschbar und aufgrund der schwierigen Geographie der Alpen meist nur mit höheren Investitionen zu realisieren – und mit fatalen Eingriffen in das Ökosystem. Es wäre dauerhafter, so rät der Alpenexperte, wenn die wirtschaftliche Entwicklung und damit auch der Tourismus auf die kulturelle und landschaftliche Vielfalt bauen würde. Derzeit wirbt er für seine Vision in einer Streitschrift mit dem Titel "Zwischen Wildnis und Freizeitpark". Eine Art sanfter Wandertourismus, der in einem Umfeld von regional erzeugten und vermarkteten Produkten abläuft, schwebt ihm da vor. Eher kleinräumig und unspektakulär – mal abgesehen vom Alpenpanorama. Aber einzigartig für die Besucher.
"Die Alpen sind eigentlich das stärkste Symbol in Europa dafür, dass der Mensch Natur nicht vollständig im Griff hat. Dass Natur stärker ist als der Mensch, das kann man sinnlich erleben. Aber das ist gut so. Das ist eine wichtige Erfahrung, die die Menschen in den Städten nicht mehr machen."
Bätzing weiß, dass seine Vision durchaus als Zumutung für die Touristen angesehen wird. Schotterwege und Trampelpfade, Aufsteigen und Schwitzen. Die Alpen sind anstrengend, wenn man sie wirklich erleben will, betont er. Und, es dürfe auch gerne mal richtig erlebnisarm sein.
"Das ist das, was man aushalten muss, sich auch mit Langeweile auseinandersetzen zu müssen, denn nur wenn man in der Lage ist, Langeweile auszuhalten, kann man wirklich etwas erleben."
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