Erklärreihe

Das liberale Judentum

Von Yael Kornblum  · 21.02.2014
Zwei Juden, drei Meinungen - wie wahr dieser Spruch ist, wenn es um die religiösen Strömungen geht, erklärt eine kleine Reihe. Die erste Folge stellt das liberale Judentum vor.
Das liberale Judentum gilt als Antipode zur Orthodoxie. Diese beherrschte das gesamte Mittelalter sowie die Frühe Neuzeit. Auf der Suche nach bürgerlicher Gleichstellung und Assimilation an das christliche Umfeld – jedoch ohne Aufgabe der jüdischen Identität - entstand im 18. und 19. Jahrhundert eine neue Form der Religiosität, die vor allem auf Gedanken von Moses Mendelsohn und Abraham Geiger basiert.
Das liberale Judentum prägte die jüdische Landschaft in Deutschland bis zu ihrer Vernichtung ab 1933. Durch die Vertreibung der Juden gelangten die liberalen Gedanken auch in die USA und nach Großbritannien . Heute ist das liberale Judentum weltweit wieder die erste große Alternative zur Orthodoxie.
Und so gibt es auch in Deutschland wieder um die zwanzig liberale Gemeinden. Seit 1999 sorgt das in Potsdam angesiedelte Abraham Geiger Kolleg für den rabbinischen und kantoralen Nachwuchs. Es ist neben dem Leo-Baeck-College in England das zweite nach der Shoah gegründete liberale Rabbinerseminar in Europa.
Doch wodurch unterscheidet sich nun das liberale vom orthodoxen Judentum?
Die Offenbarung wird nicht mehr als ein einmaliger Akt verstanden, bei dem Moses durch Gott wörtlich die Torah, also die schriftliche Lehre, sowie alle Erklärungen und Auslegungen, also die mündliche Lehre, erhalten hat. Die Texte der Torah müssen vielmehr einer historisch-kritischen Erforschung standhalten. Die Lehre ist nun ein dynamischer und fortschreitender Prozess. Die jüdischen Gesetze werden den Mitgliedern der liberalen Gemeinden zwar beigebracht, ihre Einhaltung liegt aber in der Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Entscheidend ist also, dass jeder Einzelne bestimmte Gesetze als sinnvoll erachtet und sie daher achtet und nicht etwa, weil sie Gesetz sind.
Charakteristisch für das deutsche liberale Judentum ist eine hebräisch-deutsche, mit Musikinstrumenten und oft gemischten Chören untermalte Liturgie. Gebete, deren Inhalt heute als wenig sinnvoll erachtet werden – so etwa die Bitte um die Wiedereinführung des Tieropfers – werden vermieden. Frauen sind in allen religiösen Angelegenheiten den Männern gleichberechtigt und können auch zur Rabbinerin ordiniert werden.
Eine deutsche Besonderheit aber ist der Ritus der Berliner Synagoge Pestalozzistraße. Hier sitzen, trotz des gemischten Chores, Frauen und Männer nach wie vor getrennt. Ein Mädchen hat mit 12 Jahren ihre Bat Mitzwah, sie wird Tochter der Pflicht. Doch das liberale Mädchen wird an diesem Tag nicht zur Torah aufgerufen, sondern liest ein Stück aus der Haftarah, also der Bibel vor und zwar im Freitag Abend Gottesdienst. Bei Jungen geschieht dies in allen Strömungen mit 13 Jahren am Samstag, im Schabbat-Gottesdienst.
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