Erinnerungskultur

Hinter der Fassade des Gewöhnlichen

Die Arbeit "Hauptstrasse 85a" des Künstlers Gregor Schneider: eine zitronengelbe Rauhputzfassade, hinter der sich die Synagoge Stommeln in Pulheim versteckt.
Die Arbeit "Hauptstrasse 85a" des Künstlers Gregor Schneider: eine zitronengelbe Rauhputzfassade, hinter der sich die Synagoge Stommeln in Pulheim versteckt. © picture alliance / dpa
Von Michael Köhler  · 03.07.2014
Eine Architektur des Unheimlichen, das ist das Markenzeichen des Künstlers Gregor Schneider. Nun hat er die kleine Synagoge von Pulheim nahe Köln unter einer Rund-um-Einfamilienhaus-Fassade verschwinden lassen.
"Hauptstrasse 85a". Wieder nur eine Ortsangabe, kaum mehr als die Markierung des Flurstücks im Katasteramt. Die Synagoge in Pulheim Stommeln hatte bislang keine Hausnummer. Man musste durch ein kleines Törchen in die zweite Reihe von Haus Nummer 85 und dort steht – nein, dort stand – die alte Landsynagoge von 1882. Sie war 1937 an einen Landwirt verkauft und als Stall genutzt worden. Sie hat die Zeit überstanden, weil sie gewissermaßen damals schon verschwand. Ja, die Kriegszeit hat sie überstanden. Nur die Friedenszeit seit dem 3. Juli 2014 scheinbar nicht. Denn, sie ist weg. Nicht abgerissen, sondern überbaut. An ihrer Stelle steht ein gewöhnliches Einfamilienhaus. Pastellgelb, Giebeldach, weiße Kunststoff-Fensterrahmen, Blumengardinen, Garagenrolltor.
Gregor Schneider: "Es ist ein realer Raum, der physisch vor Ort ist. Kein Mensch ist in der Lage, die Synagoge Stein für Stein zu entführen. Es ist ein Raum, der nicht mehr betretbar, aber vorhanden ist. Es ist ein neuer sichtbarer Raum, der gleichzeitig einen nicht-sichtbaren Raum schafft, verbunden mit einem schwarzen Schatten. Und dadurch, dass wir jetzt sprechen, wird dieser unsichtbare Raum in unserer Vorstellung wieder sichtbar."
Arbeit weckt Neugier an jüdischer Kultur im Rheinland
Natürlich ist die sechs mal sechs Meter kleine Synagoge mit den drei maurischen Fenstern und den Gesetzestafeln als Bekrönung nicht weg. Aber sie liegt unsichtbar darunter. Einen Zugang gib es nicht. Er wird verweigert. Man kann nur seitlich um die Synagoge, nein das Einfamilienhaus, herumgehen. Wo ein Bethaus mit Frauenempore und Toraschrein war, ist ein säkulares Wohnhaus. Automatisch fragt sich der Betrachter, was war da, was weiß ich davon?
Schneider: "Ich erlebe jetzt Menschen, die suchen, die fragen: Wo ist der Ort, das Gebäude, was vorher da war?"
Nun kann man das konsequent finden, was Gregor Schneider seit Langem macht, nämlich eine Art Architektur des Bedrohlichen, Unheimlichen zu entwerfen. Labyrinthe der Erinnerung und der Angst. Bisher wiederholte er vorhandene Räume in Form, Funktion und Aussehen in einem anderen Raum. Damit siegte er bei der Biennale in Venedig 2001. Jetzt verweigert er sich dem eigenen System. Er öffnet damit für die Neugier, die Erinnerung und das verlorene Wissen um die jüdische Kultur im Rheinland.
"Neu ist, dass diese Raumschalen nicht in den Raum hineingebaut werden, was auch vorstellbar gewesen wäre, hier. Durch die Proportionen des Gebäudes habe ich die Chance gesehen, dieses Gebäude von außen in den Griff zu bekommen. Mich erinnert das Gebäude von den Proportionen an den Deutschen Pavillon in Venedig, wo es auch nun zwingend wäre, ihn von außen komplett zu begreifen."
Hitchcock-Appeal und Heydrich-Attack
Die Beklemmung kann auch ganz anderer Art sein. Es gibt nämlich nicht nur den Hitchcock-Appeal seiner Arbeiten, sondern auch einen vordergründigen Heydrich-Attack. Im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren wollte Reinhard Heydrich ein Museum der verschwundenen Rasse errichten. Zum Glück kam es nicht dazu. Wir bestaunen deshalb heute die vielen Synagogen von Prag. Das Verschwinden hat also nicht nur eine künstlerische Tradition in Romantik und Surrealismus. In Krieg und Kino sind Attrappen für Camouflage und Fassaden gebraucht worden. Jeder wusste, das ist Schein. Sie wurden zur militärischen Täuschung und Irreführung eingesetzt. Über die Synagogen-Gedenkstätte hat sich das (befristete) Kunst-Einfamilienhaus wie eine zweite Haut gelegt. Es hat die Synagoge zum Verschwinden gebracht und schützt sie dadurch auch wie ein Firnis, ein Versteck.
"Wir haben Dinge, die auf diesen Ort verwiesen, entfernt: Schilder, Beschriftungen, ein Tor. Und ich bin sehr dankbar, dass das Meiste, was eine Institution tun kann, den Namen hergeben ist – und die Erkennbarkeit eines Ortes herzugeben. Gleichzeitig haben wir diesem Ort eine feste Adresse gegeben. Bisher hatte diese Adresse keine Hausnummer. Und diese feste Adresse wird auch in Zukunft bleiben."
Mit dem Unheimlichen auf Tuchfühlung
Lange Zeit haben sich die Juden Europas, auch im Rheinland um Emanzipation bemüht. Juden und ihre Bethäuser wollten sichtbar sein. Gregor Schneider lässt sie unsichtbar werden. Er geht mit dem Unheimlichen auf Tuchfühlung. Er nimmt der harmlosen Gedenkstätte ihre harmlose Funktion. Als Ausnahme im Stadtbild war sie wirkungslos.
"Diese verstörende Normalität schmerzt."
Gregor Schneider kokettiert in seiner Kunst mit dem Tod, dem Sterben und Verschwinden. Er arbeitet an einer messerscharfen Grenze zwischen machtvoll, verweigernder Geste und künstlerischer Bewusstwerdung. Er hat in Pulheim das Verschwinden verschwinden lassen. Und damit einen künstlerischen Meilenstein gesetzt: große Kunst.
Mehr zum Thema