Erinnerungen eines Musikbesessenen

19.10.2012
Der Star unter den deutschen Dirigenten, Christian Thielemann, ist einer der prominentesten und versiertesten Wagner-Interpreten. Wie er zu dieser Begeisterung kam, hat er in "Mein Leben mit Wagner" beschrieben. Das ist jetzt als Hörbuch erschienen - gelesen von Ulrich Tukur.
Was tun, wenn man mit Wagner nichts anfangen kann? Weghören! Oder als Alternative Christian Thielemann bzw. seinem Vorleser Ulrich Tukur zuhören und erstaunlicher Weise staunen, wie einer präzise, komplex, kompetent sowieso von einer Lebensliebe berichtet.

"Mein Weg zu Wagner."

Christian Thielmann macht in "Mein Leben mit Wagner" eine Tür auf zu Wagner, zu Bayreuth, dem Grünen Hügel, der Wagnermania. Ausgangspunkt der Liebe in der Biografie …

"Richard Wagner wurde mir in die Wiege gelegt."

… das gutbürgerliche Elternhaus in den frühen 60ern, immer mit Bach, Mozart, Beethoven, Bruckner, Brahms und Wagner:

"Die Musik war einfach da. Von Anfang an. Wie das Essen auf dem Tisch."

Inklusive der ersten Konzerterlebnisse.

"Es hat niemand verstanden, wie ein Fünfjähriger mit roten Backen auf der Stuhlkante sitzen konnte, während vorne Beethoven gespielt wurde. Ich wollte das aber."

Christian Thielemanns Erinnerungen in "Mein Leben mit Wagner" sind immer die eines Musikbesessenen:

"Meine Großmutter lag mir ständig in den Ohren: Nun komm doch endlich raus, es ist so schönes Wetter. Das schöne Wetter interessierte mich nicht. Ich wollte üben und zwar bis sechs Uhr Abends. Ich sollte die Arbeit einstellen, nur, weil draußen die Sonne schien."

Dann die Lehrzeit bei Karajan, bei Daniel Barenboim, die Zeit in Nürnberg, Berlin oder München. Und immer wieder Wagner, Wagner, Wagner.

"Das Schillern der Farben, die Wogen und Wellen, in denen man sich zugleich verlieren und wiederfinden konnte."

Richard Wagner, die große Liebe seines künstlerischen Lebens.

Um auf die Tür, die Christian Thielemann öffnet, zu kommen: Der Wagner-Experte und Musiker zeigt sich eben auch als Aficinado, Liebhaber, Fan, hemmungslos Dauerverliebter. Das lädt ein; ohne dass Thielemann dabei die Kompetenz zur Analyse verlieren, wenn es um die Wirkungsgeschichte oder Wagners Antisemitismus geht. Christian Thielemann allerdings analysiert immer, …

"Ist C-Dur noch C-Dur."

… aus der Perspektive des Musikers, der weiss, dass

"der Grüne Hügel ohne die Schattenseiten seiner Vergangenheit nicht zu denken ist."

Damit ist es auch heute noch, meint Christian Thielemann, ein schweres Auskommen. Fragen schichten sich auf, deren Antworten nicht mal eben zu bekommen sind:

""Kann Wagner etwas dafür oder nicht, dass 'Rienzi' und 'Lohengrin' Hitlers Lieblingsopern waren, und der Diktator zu den Parteitagen der NSDAP regelmäßig die 'Meistersinger' spielen ließ. Hat das kalkulierte Überwältigungsmoment in Wagners Partituren den Wahn in Hitlers Kopf vielleicht erst entzündet? Dürfen und müssen Musik und Politik, Politik und Musik getrennt voneinander betrachtet werden? Ist C-Dur noch C-Dur oder doch eine Weltanschauung. Es sei viel Hitler in Wagner, hat Thomas Mann gesagt. Aber vielleicht ist ja auch nur zuviel Wagner in Hitler?"

Im Hörbuch "Mein Leben mit Wagner" - an ein paar Stellen garniert mit Wagner-Musik - mischen sich große Wagner-Themen mit anekdotischen Geschichten über Bayreuth - dem Wagner-Mekka -, denen Thielemann die Überschrift verleiht:

""Spinnweben, Weihe, Wurstsalat: Bayreuth und sein Grüner Hügel."

In diesem Haus, in dem er rund 120-mal Wagner dirigiert hat, kennt Christian Thielemann jeden Winkel des seit 136 Jahren betriebenen Orchestergrabens:

"Ich muss ihn riechen, muss ihn inhalieren. Das Holz, das teerige Schwarz, die Anstrengungen und Mühen so viel genialer und weniger genialer Stunden. Den Stolz der Tradition auch, die Euphorie, wenn an einem Abend alles zusammenkommt."

Man muss nicht Wagner-Begeisterter sein, man kann Rock, Pop, Jazz, die Stones, Robbie Williams oder Ornette Coleman lieben, um zu verstehen, dass Christian Thielemann, wenn er diese, also "seine" Musik dirigiert und hört, in eine tiefe Freude - professionell wie kindlich - versinkt. Die Musik - jenseits ihrer Wirkungsgeschichte - ist dann nur Musik. C-Dur also nur C-Dur. Das ist so mit Musik. Und der unaufgeregte, alltägliche Erzählton, den der großartige Vorleser Ulrich Tukur in "Mein Leben mit Wagner" anschlägt, hilft, dem gespannt zuzuhören.

"Und manchmal ereignet sich das Wagner-Glück."

Also, versprochen: Es fällt nicht schwer - zuhören bis zum Ende.

"Und dann sprühen sie, die Götterfunken. Und man weiß nicht: Gießt sich hier gerade das Licht der Erkenntnis aus? Oder ist es nur der Widerschein eines ordentlichen Restaurants am Ende des Tunnels. Ich bin mir sicher: Richard Wagner würde sich über beides freuen."

Ob Wagner und seine Musik so groß sind, wie Christian Thielemann behauptet, kann ich nicht beurteilen. Ob aber Christians Thielemanns "Mein Leben mit Wagner" eine faszinierende (Hörbuch-)Lektüre bietet und eine einladende wie intelligente Brücke zur Musik Wagners baut, das steht außer Frage.

Besprochen von Hartwig Tegeler

Christian Thielemann: Mein Leben mit Wagner
Gelesen von Ulrich Tukur
Der Audio Verlag, Berlin 2012
1 CD, 16,99 Euro

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