Erinnern und Vergessen

Von Elisabeth Nehring · 30.06.2012
Das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ließ die Kulturstiftung des Bundes in Berlin diskutieren. Viele unterschiedliche Meinungen prallten hierbei aufeinander, es ging auch um die Frage, wie Künstler von den Veränderungen der Erinnerungskultur beeinflusst werden.
Um es gleich vorweg zu nehmen: die eigentliche Dominante dieser Tagung war ein Hang zum ungewöhnlich entspannten Pluralismus. Und das, obwohl im Haus der Berliner Festspiele über drei Tage lang nichts weniger als die 'Kultur des Bruchs' und damit das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verhandelt wurde. Ob es um die angeblich überstrapazierte Erinnerungskultur der Berliner Republik nach dem Fall der Mauer ging, um angemessene Ästhetiken des Wohnungsbaus oder das 'Neue in der Kunst' - keiner der zahlreichen klugen Geister, die von der Kulturstiftung des Bundes zum Referieren oder Diskutieren geladen waren, wollte sich so recht in Schärfe ereifern.

Selbst der Alt-Historiker Christian Meier, bekannt und umstritten für seine Forderung, angesichts einer regelrechten 'Fixierung auf die Vergangenheit' das 'Gebot des Vergessens' doch bitte wieder aufleben zu lassen, ließ sich (im Gespräch mit dem linken Rechtswissenschaftler Ulrich von Preuß) nicht zu eindeutigen oder gar provokanten Äußerungen hinreißen. Diese leicht wohl saturierte Unentschiedenheit des Eröffnungsabends wich im Laufe der folgenden eineinhalb Tage allerdings einer energischen Vielfalt an Themen und Meinungen. Denn zur Disposition wurde nicht nur die Fixierung auf die Vergangenheit gestellt, sondern auch ihr Gegenteil. Stephan Schlak, der Leiter der Tagung 'Kulturen des Bruchs':

"Dieses ganze avantgardistische Pathos, eben auch des Bruches, des Umsturzes, der unbedingten Zäsur, dieser unbedingten Modernität ist doch sehr fragwürdig geworden. Und wir wollen auf dieser dreitägigen Veranstaltung einfach diese Konstellation noch mal in ganz unterschiedlichen Facetten - das ist ein Paralleluniversum, fast ein Zoo unterschiedlicher Geister, die wir hier versammelt haben - beleuchten."

In diesem 'Zoo unterschiedlicher Geister' kam einiges näher, anderes blieb jedoch fern. Während sich der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer in seinem gewiss klugen Vortrag über die 'Subjektivität des poetischen Gedächtnisses' in einer kryptisch verdichteten Sprache verlor, gelang seinem naturwissenschaftlichen Kollegen, dem Gehirnforscher Hans Markowitsch, ein erhellender Blick auf das Verhältnis von Erinnern und Vergessen, um das es ja beim Sprechen über Brüche auch geht:

"Ich will Ihnen den Hinweis geben, dass wir in Psychologie und Neurowissenschaften sagen, es gibt nicht das Gedächtnis, sondern mehrere voneinander unabhängige Langzeit- Gedächtnissysteme, die weitgehend unabhängig voneinander arbeiten, die uns auch zum Teil den Alltag erleichtern. Wir wissen auch, unsere Erinnerung ist nicht gleichmäßig über unser Lebensalter verteilt. Wenn man alte Menschen fragt, von beispielsweise 75, egal ob die dement sind oder nicht, dann findet man die meisten Erinnerungen an die Zeit zwischen 15 und 25, weil da die größten Umbrüche waren - vom behüteten Elternleben zum eigenständigen Leben, eigenem Beruf. Und umgekehrt, Mitte 50 ist das Leben offensichtlich am Langweiligsten, da kommen die wenigsten Erinnerungen."

Zwar verwundert es nicht wirklich, dass das Gehirn stürmische Zeiten der biographischen Umbrüche eher speichert als ruhige Lebensphasen, doch abgesehen davon, dass es immer gut tut, seine persönlichen Eindrücke noch einmal wissenschaftlich - quasi mit höheren Weihen - bestätigt zu bekommen, zeigt die Hirnforschung damit auch: der Bruch oder die Umbrüche mögen das Leben verändern, gleichzeitig aber fördern sie das Erinnern!

Dass die Erinnerung nicht nur von verschiedenen Gedächtnissystemen gesteuert wird, sondern sich auch über die Generationen verändert, zeigte Markowitsch anhand der 'digitalen Demenz' der jungen Generation. Die habe ihre ureigenen Erinnerungsleistungen vielfach auf technische Geräte wie Computer oder Smartphones, ausgelagert. Die Jungen erinnern viel weniger auf bewusste Weise, wissen dafür aber genau, wie man schneller an Wissen heran kommt - was die nachfolgenden Diskussionen mit Vertretern der 'digital natives' bestätigten.

Die Freiheit, die es auch bedeuten kann, nicht mehr alles wissen zu müssen, konstatierte auch der Kunst- und Medientheoretiker Wolfgang Ulrich in der Diskussion über die Bedeutung des 'Neuen' für junge Künstler:

"Jetzt muss man auch nicht mehr so fortschrittlich sein, sondern kann a-historisch frei navigieren und kann sich überraschen lassen, was passiert, wenn man eine eigene Position mit Positionen anderer Kulturen oder Jahrhunderte zusammenbringt. Ich beobachte also eher eine Erlösung oder Befreiung im Kunstbereich und dann auch das Genießen des Privilegs, dass man als Künstler anders denn als Techniker nicht jedes Jahr ein neues Produkt auf den Markt bringen muss, was definierbar ein Fortschrittsprodukt im Vergleich zu einem Jahr darstellen muss."

Ob die Gesetze eines gnadenlosen Kunstmarktes damit nicht leicht beschönigt werden, bleibt an dieser Stelle einmal dahingestellt. Wichtig ist, dass hier derselbe Punkt getroffen wurde, den die Diskutanten der vorangegangenen Runde über die 'Nachgeborenen' auch beschworen hatten: ein spielerischer Umgang mit der eigenen Kunst und deren Vergangenheit. Während vorher normierte Einheits-, Archiv- und Erinnerungskultur ad acta gelegt wurden, wandte der Philosoph und Politikwissenschaftler Christian Demand die These einer pluralistischen Sicht auf die Vergangenheit ins Heute:

"Der große Kampf gegen diese Traditionen, der unter dem Banner des Neuen geführt wurde war ein Kampf, der sich abstützen konnte gegen ein Altes, das man Karikaturhaft hergerichtet hatte, das ist heute ganz schön schwer geworden. Denn wenn Sie auf eine Akademie schauen, werden sie dort ebenfalls eine Heterogenität von Lehransätzen und Positionen finden, die auf keinen Nenner mehr zu bringen sind. Also heute anti-akademisch als Künstler zu sein zu wollen und damit zu sagen, brecht mit den alten Maßstäben, schneidet die Zöpfe ab, wir machen es neu, wird Ihnen schwer gelingen und Sie werden feststellen, ja da gibt es zwei in Kassel, die das machen, und das, was du mir in München als verbindlich erzählst, haben sie in Nürnberg noch nie gehört, etc. Also auch da sind die Verhältnisse diffuser geworden."

Das Diffuse, Uneindeutige, aber auch das Spielerische und Gelassene erhielt seine positive Zuordnung - zumindest im Rahmen dieses Kongresses, der bei aller gedanklichen Fülle und Anregung und, trotz munterer Dichter und Schriftsteller auf einem abendlichen Podium, eines sehr stark vermissen ließ: die wirkliche Integration der Künste. Sicher ist das Zusammenbringen verschiedener Disziplinen aus akademischer Sicht bereits ein Schritt über den eigenen klugen Tellerrand hinaus.

Wer allerdings andere, übrigens auch von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Tagungen besucht hat, der sieht auf einmal die Defizite und Lücken der ausschließlich sprachlich-gedanklichen Bearbeitung eines Themas. Vor einem Jahr brachte zum Beispiel der legendäre Kongress 'Die Untoten' über die Schwelle zwischen Leben und Tod Wissenschaftler, Mediziner, Künstler und Regisseure, Vorträge, Filme und Aufführungen in einem inszenierten Filmsetting zusammen - und ist nicht nur dank seiner vielen Anregungen, sondern auch mit seiner starken sinnlichen Inszenierung bis heute unübertroffen. Einem so interessanten und wichtigen Thema wie die 'Kulturen des Bruchs' hätten Künstler mit ihren vielfältigen visuellen, haptischen oder akustischen Möglichkeiten gewiss eine Menge hinzuzufügen gehabt.
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