Erinnern müssen? Vergessen wollen?

Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 22.01.2010
Das öffentliche Gedenken treibt hierzulande immer öfter höchst seltsame Blüten. Vor allem in Schulen, Jugendeinrichtungen und Gedenkstätten hat sich längst eine "Pädagogisierung des Holocaust" etabliert. Vom viel beschworenen "Lernen aus der Geschichte" kann in diesem Zusammenhang wohl kaum die Rede sein - meint jedenfalls Kirsten Serup-Bilfeldt.
Die Essener Lehrerin war überaus stolz auf ihr Engagement: Sie hatte ihre Klasse zu einem Gang durch die Stadt geschickt - jedes Kind mit einem selbst gebastelten gelben Stern am Mantel! "Damit", so erklärte sie "die Kinder mal sehen, wie das ist, wenn man ausgegrenzt wird."

Stolz war man auch in einer Kölner Grundschule: Dort ließen die Kinder Luftballons steigen, an die Briefe geheftet waren. Adressiert waren sie an ein vor 70 Jahren ermordetes jüdisches Kind.

Gut gemeinte Torheiten dieser Art, bei denen das Schicksal der Ermordeten zum didaktischen Lernziel wird, haben Hochkonjunktur, wenn es hierzulande, etwa am 27. Januar, ans Gedenken geht. Mal ist es eine Volkshochschule, mal eine Evangelische Akademie, mal ein Jugendzentrum oder ein Gewerkschaftsforum, deren Eifer vor keiner Geschmacklosigkeit zurückschreckt.

Nun ist die Sehnsucht, eine traumatische Vergangenheit zu "bewältigen", verständlich; abwegig aber ist die Vorstellung, die Fixierung auf diese traumatische Vergangenheit gewährleiste die Befreiung von ihr. Und so ließ die "Erinnerungswut" der "Dauerversöhner und Berufsbetroffenen" schon den verstorbenen jüdischen Essayisten Eike Geisel zornig spotten:

"Zum Rahmenprogramm deutscher Selbstfindung gehört jenes unerträgliche Gemisch aus jugendbewegtem Begegnungskitsch und immer gleicher Beschäftigungstherapie, aus betroffenen Christen, eifernden Hobbyjudaisten und akribischen Alltagshistorikern ... "

Tatsächlich ermöglicht es das Gedenken an Auschwitz längst jedem Kleinstadtbürgermeister, jedem Schuldirektor, jedem Initiator irgendwelcher "Projekte", eine überlegene moralische Haltung zu demonstrieren. Begleitet wird diese Haltung von der felsenfesten Überzeugung, "aus der Geschichte gelernt zu haben."
Das allerdings darf bezweifelt werden. Denn wenn diese Art des "Gedenkens" etwas deutlich macht, so ist es das völlige Scheitern des viel beschworenen "Lernens aus der Geschichte". Klar wird stattdessen: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit bleibt völlig einfluss- und folgenlos für die Beschäftigung mit der Gegenwart.

Henryk M. Broder hat das so auf den Punkt gebracht:

... Je heftiger die Gespenster von vorgestern bekämpft werden, umso weniger werden die Gespenster von heute gesehen ...

Und das, obwohl diese Gespenster weder zu übersehen noch zu überhören sind!

Wurde doch, etwa während des Krieges in Gaza, auf deutschen Straßen von extremen Rechten, extremen Linken und radikalen Muslimen einträchtig "Tod den Juden" gegrölt, wurden Israelfahnen verbrannt oder auf Flugblättern zum Boykott israelischer Produkte aufgerufen. Da wurden zwar die seit Jahren andauernden Raketenangriffe der Hamas verurteilt, im selben Atemzug aber auch Israels Versuch, sich gegen diese Angriffe militärisch zur wehren.

An die Adresse dieser "Sowohl-als-Auch"-Taktierer richtete letztes Jahr der österreichische Journalist Christian Ortner die bitterböse Frage:

Warum lassen sich die Juden nicht einfach ohne Gegenwehr ermorden? Früher ging das doch auch ...

Im Namen des Friedens gegen Israel zu sein - das scheint unter Deutschen durchaus mehrheitsfähig. An den toten Juden demonstrieren sie ihren antifaschistischen Lerneifer, dessen Quintessenz darin besteht, den lebenden Juden Lektionen in deutscher Friedenspolitik zu erteilen.

Lernen aus der Geschichte? Wohl kaum.
Und so sind die eingangs beschriebenen Arten des Gedenkens nichts weiter als die - verunglückten - Selbsttherapierungsversuche einer Gesellschaft, der jegliche echte Empathie mit den Opfern fehlt.