Erforschung von Vorurteilen

Warum Schwule nicht zuhören und Muslime schlecht einparken

Wissenschaftler wollen versteckte Vorurteile erkennen.
Können Frauen schlechter autofahren als Männer? Und können Muslima es noch schlechter als andere Frauen oder ist das nur ein Vorurteil? © dpa / picture alliance
Von Eva Raisig · 05.11.2015
Unsere Autorin wird auf der Straße rüde überholt. Typisch, denkt sie, eine Frau mit Kopftuch am Steuer. Gleichzeitig ärgert sie sich über ihre Vorurteile. Sie will sie mit wissenschaftlichen Methoden bekämpfen. Aber das ist gar nicht so einfach.
Neulich war ich mit dem Fahrrad unterwegs, hier auf der Karl-Marx-Straße in Neukölln, das ist eine ziemlich viel befahrene Straße. Ich fahre also die Straße runter, super umsichtig, nicht zu dicht an den parkenden Autos, als plötzlich von hinten ein Auto heranrast und hupt und ärgert sich offensichtlich, dass ich zu weit in der Straßenmitte fahre, fährt hupend an mir vorbei und schert direkt vor mir ein, so dass ich gerade noch abbremsen kann. Ich schaue also in das Auto rein und da sitzt eine Frau. Und die hat ein Kopftuch an. Ich hab irgendwas gebrüllt, du Affe du Penner oder so, aber das war nicht, was ich in meiner Wut dachte. Ich dachte nämlich ganz spontan: Typisch.
Georg Kreisler: "Das ist wieder typisch!
Er ist doch schließlich nur ein Ausländer, nicht mehr!
Und geht so sorgenfrei
Als ob er Schweizer sei
Durch den Verkehr
Ich muss hinterher."
Und als ich mich dann wieder beruhigt hatte, dachte ich: Typisch? Typisch für was? Für Autofahrer? Für Muslima? Für Frauen am Steuer?
Keine Ahnung, was da für eine Argumentationskette in meinem Kopf ablief. So was wie: Klar können die kein Autofahren, die sind wahrscheinlich eh nur damit beschäftigt zu kochen und ihren Männern zu gehorchen und wenn sie mal draußen sind, sind sie halt immer ein bisschen unverschämt? Ich weiß es nicht.
"Die sind halt irgendwie so rücksichtslos."
"Die unterdrücken alle ihre Frauen."
"Die beten halt auch den ganzen Tag."
"Und sind irgendwie nicht integrierbar in die Gesellschaft vernünftig."
"Viele von denen."
Jedenfalls hab ich mich echt ein bisschen erschrocken. Es ist bestimmt nicht meine Überzeugung, dass Frauen schlecht Autofahren oder Muslime Verkehrsrüpel sind. Im Gegenteil, ich würde mich normalerweise gegen solche Überzeugungen einsetzen, ehrlich.
Georg Kreisler: "Das ist wieder typisch!
Er sieht den Leuten, die ihn anschau#n, ins Gesicht
Und wenn er stehenbleibt
Wie's ihn gleich weitertreibt
Den Bösewicht!
Mich bemerkt er nicht."
Man bestreitet in der Regel, überhaupt Vorurteile zu haben
Ist unsere Autorin insgeheim eine islamophobe Sexistin, obwohl sie behauptet, es nicht zu sein? Auf der Suche nach einer Antwort begeben wir uns zunächst zum Ernst-Reuter-Platz in Berlin. Hier hat einer der bekanntesten Vorurteilsforscher sein Büro.
Wolfgang Benz empfängt in seinem Zimmer. Für Außenstehende ist die Bürosituation unübersichtlich. Vor dem Bücherregal und dem mit Leitzordnern und Dokumenten bedeckten Schreibtisch stapeln sich Umzugskartons:
"Warum das hier so aussieht: Ich werde weder rausgeschmissen, noch ziehe ich um. Das ist ein Teil meines Nachlasses ..."
Wolfgang Benz ist Historiker und hat mehr als zwanzig Jahre lang das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin geleitet:
"... aber aus irgendwelchen Gründen haben sie den noch nicht abgeholt und deshalb ist es hier jetzt so unwirtlich."
Typisch Wissenschaftler.
"... und ich dachte, es sieht hier immer so aus."
Wolfgang Benz: "Ähnlich ja, ähnlich. Aber das mit den Kisten ist natürlich noch ärger..."
Autorin: "Ich möchte mit Ihnen über Vorurteile sprechen."
Wolfgang Benz: "Man bestreitet in der Regel, überhaupt Vorurteile zu haben. Man stellt sich doch gerne als einen aufgeklärten, rationaloperierenden, nicht von Emotionen gesteuerten Menschen dar und versucht dann auf jeden Fall, wenn man schon mit seinen Ressentiments konfrontiert wird, stellt man das dann als Tatsachen dar."
"Die klauen, vor allem Autos natürlich."
"Ja, natürlich, die klauen!"
"Überhaupt klauen."
"Die sind gewalttätig, klauen."
"Und die LKW-Fahrer kommen hier nach Berlin und nehmen Fahrräder mit, die sie dann verticken."
Wolfgang Benz: "Oder man zitiert das schlagende Beispiel."
"Das Handy wurde in Frankfurt/Oder geklaut. Die Chefin ist ne Zicke. Und mein Mann kann einfach besser einparken. Dit is' so."
Hilft ein Multiple Choice-Fragebogen gegen Vorurteile?
Wenn wir unserer Autorin aber glauben dürfen, trifft auf sie beides nicht zu, keine Tatsachenbehauptung, kein schlagendes Beispiel - und trotzdem diese Verkehrsszene. Sie hat also offenbar gleichzeitig Vorurteile und keine Vorurteile. Wie könnte sich dieser Widerspruch aufheben lassen oder wie ließe er sich zumindest genauer untersuchen?
Vielleicht mit einem Fragebogen. Multiple Choice. Das Standardmessinstrument in der empirischen Sozialforschung.
"Bitte kreuzen Sie an, ob Sie folgenden Aussagen zustimmen oder nicht. Haben Sie etwas gegen Frauen, die Auto fahren? Denken Sie, muslimische Mitbürger seien im Straßenverkehr rücksichtsloser als Autofahrer anderer Religionszugehörigkeit? Ja? Nein?"
Nein, sag ich doch!
Wolfgang Benz: "So primitiv wird ja in aller Regel auch nicht gefragt. Also über solche Naivitäten ist man ja hinaus und die Fragetechnik hat sich ja unendlich verfeinert."
... sagt Wolfgang Benz, obwohl er - wie er betont - als Historiker nun nicht gerade der empirischen Sozialforschung zuneigt:
"Also da ist schon sehr viel Kunst investiert, um nicht so platt zu fragen: Mögen Sie Schwule oder lehnen Sie Schwule ab? Und das wissen die empirischen Sozialforscher ja auch, wie man fragen muss, um Annäherungen an bestimmte Tendenzen und Trends zu bekommen."
Wie oft haben Sie Sympathie für die hier lebenden kopftuchtragenden Autofahrerinnen empfunden? Sehr oft? Ziemlich oft? Wissen Sie nicht? Nicht sehr oft? Nie?
Aber selbst wenn die Fragen noch so fein gestellt sind, steckt hinter dem Kreuzchen auf dem Fragebogen eine ganz eigene kleine Welt aus Unwägbarkeiten.
Versteht die Person die Frage so, wie sie gemeint war? Ist die Person in der Lage, die Frage zu beantworten? Und, ganz wichtig: Würde ihr soziales Umfeld die Antwort akzeptieren?
"Öhm.. Moment. Ähm. Puh. Schluck"
"Da muss man immer total aufpassen, was man sagt."
"Die fühlen sich immer verfolgt."
"Sie haben unendlich viel Macht."
"Sie haben alle Fäden in der Hand."
"Sie können gut mit Geld umgehen - weiß nicht, on das immer noch ein aktuelles Vorurteil ist."
"Man sagt, sie sind auf den eigenen Vorteil bedacht. Sagt man..."
Die Autorin versichert glaubhaft, dass ein Fragebogen bei ihr wahrscheinlich keine islamophob-sexistischen Tendenzen offenlegen würde. Welche Konsequenzen soll sie also aus der Verkehrsszene ziehen?
Wolfgang Benz: "Wenn man das hinterher reflektiert, dass man von einer kopftuchtragenden - ich setze noch einen oben drauf: Mercedes fahrenden - Frau mit dem klapprigen Fahrrad bös geschnitten wurde. Wenn man das reflektiert und der Kern der Sache ist, dass ich von einer dusseligen Person, die vielleicht in diesem Moment dusselig war oder im Grunde unverschämt ist, dass das aber nichts mit ihrem Fahrzeug, nichts mit ihrem Kopftuch, nichts mit ihrer Religion zu tun haben muss, dann bin ich ja eigentlich schon auf dem sicheren Ufer."
Die Autorin ist mit dieser Antwort aber nicht völlig zufrieden. Sie befürchtet, obwohl es ihr unangenehm und peinlich war, könnte es in einer vergleichbaren Situation wieder genauso laufen. Offenbar, sagt sie, sei das ja ein Teil ihres Bewusstseins gewesen, zu dem sie nicht unbedingt direkt Zugang habe.
Unter dem Begriff 'Chef' verstehen wir einen 50-jährigen weißen Mann
Wie auch unsere Autorin vermuten wir mittlerweile, dass es neben den landläufig als "Vorurteil" bekannten Voreingenommenheiten noch einen weiteren Blick auf das Thema geben könnte. Um diese These mit einigen Beispielen jenseits der eingangs beschriebenen Szene zu untermauern, begeben wir uns für einen Moment heraus aus den akademischen Zirkeln hinein in die Praxis.
In unsere alltägliche Stereotypengalerie - in ein Museum schiefer Bilder, mit denen wir uns jeden Tag umgeben. Im Straßenverkehr, im Bekanntenkreis - und auch im Job.
Jessica Gedamu: "Allein wenn wir uns vorstellen, der Begriff Chef. Das ist einer, bei dem man, wenn man drüber nachdenkt, eine recht klare Vorstellung hat, wie die Person aussieht, die Chef ist. Das ist selten eine Mitte 30-jährige schwarze Frau, sondern eher der fünfzigjährige weiße Herr, den man da automatisch vor Augen hat und das sieht man ja auch in der Unternehmenslandschaft."
Jessica Gedamu arbeitet für die Unternehmensberatung EAF in Berlin. Sie gibt Seminare für Leute, die in Großunternehmen über andere Leute Entscheidungen fällen: Geschäftsführer, Abteilungsleiter, Personaler.
Jessica Gedamu: "Eigentlich möchte ich eine Diskussion darüber anregen: An welchen Stellen haben wir eigentlich Bilder? Und inwiefern beeinflussen mich die Bilder in den Entscheidungen, die ich treffe jeden Tag?"
Woher diese Bilder stammen, warum wir sie in unseren Köpfen haben - das wird noch zu klären sein. Dass aber tatsächlich körperliche Merkmale wie Geschlecht oder Hautfarbe entscheidenden Einfluss haben können, ist bei einem Blick in die oberen Führungsetagen nicht zu leugnen. Die Beispiele für andere, offenbar verborgene Entscheidungskriterien in der Unternehmenslandschaft wirken nur auf den ersten Blick noch absurder. Wie dieses:
15 Prozent der erwachsenen männlichen US-Amerikaner, erzählt Jessica Gedamu, seien über 1 Meter 83 groß. Von den Geschäftsführern großer Unternehmen in den USA seien allerdings 60 Prozent über 1 Meter 83.
"Diese Zahl steht in keiner Proportion. Man würde denken, das hat überhaupt keinen Einfluss darauf. Aber das gleiche findet man auch bei Generälen in der Armee, bei amerikanischen Präsidenten. Große Menschen kommen öfter in Führungspositionen, kann man sagen. Das ist natürlich vereinfacht, aber trotzdem sind es so Informationen, die uns erstmal aufhorchen lassen."
Charlotte und Paul sind tendenziell erfolgreicher in der Schule als Kevin und Chantal.
Eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Jessica Gedamu: "Da wird deutlich, eigentlich sollte es doch gar keinen Einfluss haben, aber es hat einen Einfluss und irgendwie wissen wir das auch alle."
Oder all die Fatimas, Mehmets und Serkans, die in Deutschland bei gleicher Qualifikation deutlich seltener zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden als Bewerber mit deutsch klingenden Namen. Greg und Emily haben bessere Chancen in den USA als Lakisha und Jamal. Sunita und Muhammed kommen auf dem britischen Arbeitsmarkt schlechter weg als Alison und Andrew:
"Und würde man auf die einzelnen Leute, die diese Lebensläufe aussortiert haben, zugehen, würde keine Person sagen oder die wenigsten, ich finde Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte weniger qualifiziert oder würde sie weniger gern einstellen. Das sind eher unbewusste Prozesse, wo jemand aussortiert wird."
Klassifizierungen helfen aber auch in der Kommunikation
Offenbar haben Stereotype und schablonenartige Vorstellungen also Einfluss darauf, wie wir in unserem Alltag Angehörige bestimmter Gruppen bewerten oder einschätzen und wahrscheinlich war das schon immer so. In grauer Urzeit war es sicherlich hilfreich, jedes Mal die Flucht zu ergreifen, wenn ein Säbelzahntiger vor uns stand, und nicht darauf zu hoffen, dass einer davon zufällig ein menschenfreundliches Exemplar sein könnte.
Unsere Autorin will sich aber nicht damit abfinden, dass die Zivilisation an dieser Stelle völlig spurlos an ihr vorübergezogen sein soll.
Das Vorurteil als kognitives Steißbein.
Wir legen eine Leitung zu Bernd Wittenbrink nach Chicago, der dort als Sozialpsychologe forscht und sich mit solchen kognitiven Scherereien auskennt:
"Verallgemeinerungen sind generell auch heute hilfreich. Klassifizierungen helfen uns mit unbekannten Objekten oder Gegenständen fertig zu werden. Wenn ich Ihnen was von einem Stuhl erzähle, den Sie vorher nicht gesehen haben, wissen Sie, wovon ich rede, weil ich eben das Wort "Stuhl", die Klasse von Möbeln beschreibe."
Ob der Stuhl sich aber vor allem als Stuhl versteht und nicht vielleicht eher als Küchenmöbel oder als vierbeiniges Holzobjekt - oder aber ob ihm, obwohl er aussieht wie ein Stuhl, vielleicht völlig andere Eigenschaften zukommen als man für gewöhnlich von Stühlen erwartet - all das lässt unsere verallgemeinerte Betrachtung außer Acht:
"Insofern besteht bei dieser Form der Klassifikation, die grundsätzlich wichtig ist und sehr hilfreich, das fundamentale Risiko, dass die Inhalte, die für diese Klassifikation benutzt werden und für die Erklärung der Umwelt, dass die eben unzutreffend sind. Und auch in dem Fall, wo die Beschreibungen an sich zutreffend sein könnten, werden diese Beschreibungen dann ja auf eine große Zahl von Menschen angewandt."
Und eben nicht nur auf Stühle:
"Es gibt verschiedene Gründe, die Vorurteile oder Stereotype ermöglichen. Und diese kognitive Funktion, dass man seine Umwelt vereinfacht und schnelle Urteile bilden kann, ist eben ein Grund, warum Vorurteile und Stereotype benutzt werden. Es gibt dann noch andere Gründe, zum Beispiel dass man motiviert ist, bestimmte Gruppen negativ zu sehen oder zu behandeln, aber diese kognitive Funktion ist eben eine, die eigentlich immer aktuell ist, auch wenn solche Motivationen nicht vorliegen."
Wagen wir also an dieser Stelle eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Vorurteilen: Überzeugungen, die wir aussprechen ohne uns zu schämen, weil wir sie für richtig und selbstverständlich halten oder die wir in einer Befragung vielleicht bewusst verschweigen würden.
"Die reden eigenartig."
"Haben nen nervigen Dialekt."
"Die haben den schlimmsten Dialekt in ganz Deutschland."
"Aber das ist nicht wirklich ein Vorurteil."
"Die kommen nach Berlin."
"Die haben alle tolle Wohnungen im Prenzlauerberg besetzt."
"Und die treiben die Mieten hoch."
"Ach doch, das sind doch die...die essen immer Spätzle."
Nennen wir diese Vorurteile explizit.
Und zweitens solche, die unsere Wahrnehmung implizit beeinflussen, ob wir das wollen oder nicht und auch ob wir das merken oder nicht. Die Unterscheidung zwischen den beiden Vorurteilskonzepten ist wichtig, aber sie ist auch nicht immer eindeutig zu treffen. Es gibt keine klare Grenze zwischen expliziten Vorurteilen und impliziten Einflüssen auf unsere Wahrnehmung von Menschen und Gruppen.
Unser Gehirn verbindet Erfahrungen miteinander - das führt zu unbewussten Bildern
An dieser Stelle statten wir Juliane Degner einen Besuch in Hamburg ab, um mehr über diese impliziten Einflüsse zu erfahren, die große Menschen eher in Führungspositionen bringen und möglicherweise auch unsere Autorin zu ihrem inneren "typisch!" gebracht haben. Juliane Degner ist Professorin für Sozialpsychologie und ihr Blick auf Vorurteile ein etwas anderer als der des Historikers:
"Da geht es uns eher darum, wie unser Gehirn, also unser kognitiver Apparat mit Wissen um Menschen und soziale Gruppen umgeht, es speichert und verarbeitet."
Dahinter stecke, erzählt sie uns, zunächst einmal ein einfacher Lernprozess:
"Ich nehme zwei Dinge wahr: Eine Gruppenzugehörigkeit, eine Kategorie und eine bestimmte Eigenschaft, ein bestimmtes Merkmal. Wenn ich die häufig miteinander wahrnehme, speicher ich die miteinander ab. Nun heißt "miteinander wahrnehmen" nicht unbedingt, dass ich immer ein Gruppenmitglied sehe, dass sich so und so verhält. Sondern jemand erzählt mir das oder ich nehme es vermittelt wahr aus sonstigen Quellen."
Fernsehen, Kinderlieder, Schulbücher, eine Erfahrung des Großvaters - es kann alles mögliche sein.
"Diese kognitive Betrachtung sagt erstmal nur: Es gibt einen Link zwischen Wissenseinträgen im Gedächtnis und der wird wieder aktiviert, wenn ich an einen Teil dieser Einheiten denke. Wenn ich zum Beispiel an "Frau" denke, dann wird automatisch alles aktiviert, was ich mit Weiblichkeit verbinde. Das hat nichts damit zu tun, dass ich denke, dass Frauen so sind oder so sein müssen, sondern es ist erstmal nur relativ passiv gespeichertes Wissen."
Aber dieses Wissen, dieser Eindruck der Bilder auf unser Gedächtnis, soll sich messen lassen können.
Unsere Autorin verbindet unbewusst Naturwissenschaften mit Männern. Oder?
Die wohl bekannteste Messmethode, um solche verborgenen Gedächtniseinträge nachzuweisen, ist der "Implizite Assoziationstest", kurz IAT, den Harvardforscher in den 90er Jahren entwickelt haben. Ein einfacher Computertest, bei dem Probanden möglichst schnell und möglichst fehlerfrei bestimmte Begriffe übergeordneten Kategorien zuordnen müssen. Zum Beispiel männliche und weibliche Vornamen den Kategorien "männlich" und weiblich" oder Begriffe wie gut/böse/schön/schrecklich den Kategorien "positiv" oder "negativ".
Die Autorin wird den Test jetzt für Geschlecht-Wissenschaft durchführen. Sie hat ein Diplom in Physik und ist der Überzeugung, dass die Eignung für Natur- wie auch für Geisteswissenschaften von vielen Faktoren abhängt, aber nicht vom Geschlecht. Wir werden sehen, ob sich das auch in dem impliziten Assoziationstest widerspiegelt.
Es geht darum herauszufinden, ob die Autorin Begriffe aus den Kategorien "männlich" und "weiblich" trotzdem eher der Kategorie "Naturwissenschaft" oder der Kategorie "Geisteswissenschaft" zuordnet. Ob in ihrem Gehirn zwischen bestimmten Gruppen engere Verknüpfungen bestehen, ob sie das nun will oder nicht.
Die Kategorien werden jeweils links oder rechts auf dem Bildschirm eingeblendet, mit zwei Tasten - links und rechts - soll sie so schnell wie möglich die für einen kurzen Moment eingeblendeten Begriffe auf die richtige Seite sortieren.
Erst muss sie Begriffe aus dem Themenfeld "weiblich" oder "männlich" richtig zuordnen, dann Begriffe aus den Kategorien Naturwissenschaft/Geisteswissenschaft. Das sind gewissermaßen Vorübungen.
Dann kommt die eigentliche Messung: Die beiden Aufgaben werden gemischt. Die Autorin muss gleichzeitig Begriffe aus den Kategorien männlich/weiblich richtig zuordnen und aus den Kategorien Naturwissenschaft/Geisteswissenschaft. Sie hat dafür aber nicht vier, sondern weiter nur zwei Tasten zur Verfügung.
Jede der beiden Antworttasten ist also mit zwei Kategorien belegt - zum Beispiel erst mit weiblich/Naturwissenschaft und männlich/Geisteswissenschaft, im zweiten Durchgang dann umgekehrt.
Gemessen wird die mittlere Reaktionszeit zwischen dem Erscheinen des Begriffs und dem Drücken der Antworttaste. Die Entwickler des Tests deuten eine kürzere Reaktionszeit als engere Assoziation zwischen den beiden Kategorien, mit denen die jeweilige Antworttaste belegt ist:
"So jetzt kommt hier die Interpretation meines IAT-Ergebnisses. Ihre Daten lassen vermuten: Starke Assoziation von "männlich" mit "Naturwissenschaft" und "weiblich" mit "Geisteswissenschaft". Hm."
Also doch eine verkappte Sexistin. Aber lässt sich aus der Reaktionszeit wirklich auf verborgene Voreingenommenheiten schließen?
"Egal, was es ist, ich will das einfach nur noch loswerden."
Während sie sich noch grämt, kehren wir zurück zu Juliane Degner: "Es gibt mehrere Alternativerklärungen für ein und denselben Effekt."
Die geringere Reaktionszeit könnte zum Beispiel auch damit zusammenhängen, dass der Probandin bestimmte Begriffe vertrauter sind:
"Es findet sich auch, dass Menschen, die besser sind, zwischen Aufgaben zu wechseln, mehr kognitive Kapazitäten haben, kleinere IAT-Effekte haben. Das liegt nicht unbedingt daran, dass die weniger Vorurteile haben: Die können die Aufgabe einfach besser erfüllen."
Trotzdem: Die Entwickler des Tests interpretieren das Ergebnis mit einer klaren Assoziation zwischen bestimmten Begriffsgruppen: "Wenn wir wirklich davon ausgehen, dass Assoziationen gemessen werden, muss man sich fragen: Was bedeutet das?"
Eigentlich erst einmal nur, dass es diese Verbindung gibt. Es wird nicht interpretiert, woher genau die Assoziation kommt. Jungs sind gut in Mathe und Mädchen in Sprachen. In der Physikvorlesung der Autorin an der Uni lag der Frauenanteil bei 20 Prozent, im Physik-LK an der Schule saß außer ihr nur noch eine andere. Vielleicht hält die Autorin aber insgeheim tatsächlich Männer für naturwissenschaftstauglicher und rechnet Frauen eher den Geisteswissenschaften zu. Wer weiß. Oder sie hat im Hinterkopf, dass Frauen als eher technikfremd gelten. Oder die Autorin denkt, dass es Frauen bis heute schwerer haben in den Naturwissenschaften als Männer.
Juliane Degner: "Auch das ist ja eine negative Valenz. Oder-oder-oder. Sie sehen, es gibt tausend verschiedene Möglichkeiten, so eine Valenzassoziation zu interpretieren."
Begnügen wir uns also damit, dass es diese Bilder gibt und unsere Autorin, da sie nicht seit ihrer Geburt als Einsiedlerin gelebt hat, auch davon betroffen ist.
Autorin: "Aber ich habe es nur gedacht! Ich habe nur "typisch!" gedacht!"
Juliane Degner: "Das ist das, was Sie meinen: Sie merken, Sie haben's im Kopf, Sie sprechen es nicht - vielleicht, vielleicht aber doch, wenn niemand dabei ist - weil es von Ihrer Überzeugung abweicht."
Aber es also die Möglichkeit, die automatisch aktivierten Bildern, wenn es denn welche waren, nicht auch ins Verhalten übergehen zu lassen - immerhin!
Juliane Degner: "Wenn ich das merke! Und wenn ich dann auch noch die kognitiven Fähigkeiten habe, das zu verhindern."
Nicht immer habe ich aber offenbar diese kognitiven Kapazitäten frei. Weil ich zum Beispiel in der ungewöhnlichen Situation einer Fernsehsendung sitze und die Verbindungen in meinem Gedächtnis nicht vollständig kontrollieren kann..
.. ohne das entschuldigen zu wollen..
.. oder ich unter Zeitdruck handeln muss ohne die Situation, in der ich mich befinde, vollständig zu überblicken.
Selbst Schwarze schießen eher auf Schwarze als auf Weiße
An dieser Stelle schalten wir zurück nach Chicago zu Bernd Wittenbrink. Er erforscht genau solche Situationen - in denen implizite Einflüsse sich auch auf unser Verhalten auswirken: "Die Idee ist die, dass unter bestimmten Bedingungen solche kulturellen Inhalte durchaus die Wahrnehmung und das Handeln beeinflussen."
Aufmerksam geworden sind wir auf Bernd Wittenbrinks Forschung im Zusammenhang mit der anhaltenden Polizeigewalt gegen Schwarze in Amerika. In seiner Forschung, geht es aber nicht um Situationen, in denen ganz offenbar explizite Hintergründe eine Rolle spielen - wenn zum Beispiel Polizisten unbewaffneten Schwarzen Menschen in den Rücken schießen. Es geht um Situationen, in denen Menschen unter Zeitdruck handeln, ohne dass sie genügend Informationen haben, um die Situation vollständig zu erfassen. Oft wird die nur in Augenblicken getroffene Entscheidung dann von Bildern geleitet wird, die im Gedächtnis verankert sind.
Bernd Wittenbrink: "Die Shooter Studies sind dann eben ein Beispiel für ein konkretes Handeln, welches von solchen kulturellen Inhalten beeinflusst ist."
In den Shooter Studies, die Bernd Wittenbrink seit einigen Jahren durchführt, werden die Versuchspersonen gebeten, in einer Computersimulation diejenigen Menschen zu erschießen, die eine Waffe tragen. Auf dem Bildschirm ist erst ein Landschaftshintergrund zu sehen - ein Hinterhof, ein Park, eine Straße - dann wird für einen Augenblick das Bild einer Person eingeblendet. Sie hält entweder eine Schusswaffe in der Hand oder einen harmlosen Gegenstand, ein Handy oder eine Brieftasche. Und die Person ist entweder Schwarz oder Weiß.
"Unsere Studien dokumentieren dann klare Befangenheit aufgrund der Hautfarbe der Zielperson. Versuchspersonen schießen schneller und häufiger, wenn die Zielperson schwarzer Hautfarbe ist."
Übrigens sowohl weiße als auch schwarze Probanden. Und kamen diese Ergebnisse für Sie überraschend?
Bernd Wittenbrink: "Nein, die kamen nicht überraschend, denke ich. Von der psychologischen Seite sind diese Ergebnisse eigentlich bestens erklärlich und vorhersehbar. Was meines Erachtens wichtig ist, was die Shooter Studies angeht, ist festzustellen, dass der Grund, warum diese Ergebnisse auftauchen, ein anderer ist als man das intuitiv als erstes denkt, dass es passiert. Intuitiv denken wir, dass solche Ergebnisse auftauchen aufgrund von expliziten Einflüssen - dass wir denken, wir mögen diese Art von Menschen nicht und handeln entsprechend. In den Shooter Studien ist das ein anderer Effekt."
Weil die Versuchspersonen in der harmlosen Laborsituation keinen Grund haben, die Aufgabe nicht zu erfüllen - und die kann korrekt gelöst werden. Sie lautet ganz eindeutig: Schießen, wenn die Zielperson eine Waffe trägt. Dann und nur dann. Und obwohl die Probanden es wollen, gelingt es ihnen nicht. Weil sie es nicht schaffen, die Hautfarbe außer Acht zu lassen:
Bernd Wittenbrink: "Und ich denke, das ist wichtig. Es ist nicht damit getan, dass wir die schwarzen Schafe unter Polizisten aussortieren, sondern es ist wichtig zu verstehen, dass in dieser Gesellschaft, in der wir leben, wir mit diesem Problem konfrontiert werden. Ob wir nun Vorurteile haben oder keine Vorurteile haben."
Aber wie es so ist mit gesellschaftlichen Erklärungen: Schlüssig sind sie meistens, ein konstruktiver Ausgangspunkt zur Lösung des Problems aber selten.
Es passt aber zu dem Interesse an der Idee, die unliebsamen impliziten Einflüsse könnten sich möglicherweise auch ohne viel eigenes Zutun im Labor beheben lassen.
Vorurteilsfrei in 30 Tagen.
Eine einfache Lernaufgabe am Tag und ein paar Tonsignale in der Tiefschlafphase, mit denen neue Assoziationen angelegt werden - solche Forschungsansätze gibt es.
Vielleicht wär' das ja eine Möglichkeit?
Vielleicht, ja. Wenn die Autorin im Anschluss in den Laborräumen bliebe und fortan keinen Kontakt mehr zur Außenwelt unterhielte.
Das beste Rezept gegen Vorurteile: Erfahrungen sammeln
Wir dürfen getrost annehmen, dass die alltäglichen Bilder und Stereotype, mit denen wir uns umgeben, einen nachhaltigeren Eindruck im Gedächtnis hinterlassen als ein paar kurzzeitig im Schlaflabor gelegte Verbindungen zwischen Kategorien und Begriffsgruppen.
Frau Degner, habe ich also überhaupt eine Chance, meine Vorurteile loszuwerden?
Juliane Degner: "Nein! So pessimistisch das klingt. Ich glaube nicht, denn wir haben die ja mit einem Grund. Die Funktion von Stereotypen und Vorurteilen, die Verarbeitung sozialer Information zu vereinfachen, die bleibt ja."
Herr Benz?
Wolfgang Benz: "Negative Vorurteile zu überwinden wäre natürlich in jedem Fall hilfreich, angenehm, gut für die Gesellschaft. Aber nichts ist auch so zählebig und so dauerhaft verankert wie ein Vorurteil. Und wenn man das auch noch in früher Sozialisation erlernt hat, wird man das nur schwer los."
Juliane Degner: "Was wir vielleicht erreichen können, ist eine bestimmte Bewusstheit. Wenn ich weiß, dass solche Prozesse am Wirken sind und ich das nicht möchte, dann kann ich versuchen, mir in bestimmten Situationen die Zeit zu nehmen, meine eigenen Entscheidungen und Eindrücke zu hinterfragen."
Wir müssen uns also nicht damit abfinden, dass Menschen über 1 Meter 83 eher in Führungspositionen kommen und Jamal und Fatima - egal wie groß sie sind - nicht einmal zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden. Zumindest ein Bewerbungsverfahren ist
ein planbares Unterfangen.
Herr Wittenbrink - Ihr Tipp zum Schluss?
Bernd Wittenbrink: "Ich denke, was am besten gegen Vorurteile hilft, sind vielfältige direkte Erfahrungen mit Menschen mit allen möglichen unterschiedlichen Hintergründen und eine offene Weltansicht bei diesen Erfahrungen. Das dürfte am besten helfen."
Wir könnten unserem Gehirn - wenn es das Ganze schon nicht allein schafft - damit zumindest hilfreich zur Seite stehen. Indem wir ihm ein paar neue Bilder liefern.
Bilder, für die Nicht-Weiße Personen in den Chefetagen oder selbstbestimmte Muslimas irgendwann kein kognitives Problem mehr darstellen. Und die uns zwingen würden, das Maß an mangelndem Fahrvermögen oder persönlicher Unverschämtheit in jeder Situation neu beurteilen zu müssen.
Georg Kreisler singt:
"Sehen Sie, was man mitmacht!
Das ist wieder typisch!
Da kommt ein Ausländer
In unsre Stadt voll List
Geht überall aus und ein
Ich schleiche hinterdrein
Seh' alles, was er macht
Bleib' auf die ganze Nacht
Geh' selber nicht nach Haus
Und dann stellt sich heraus
Dass dieser Ausländer ein Einheimischer ist
Ist doch wieder typisch!"
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