"Erben der Shoah"

Bausteine der Beklemmung

Eine Frau mit buntem Hut steht am 09.12.2013 in Berlin im Nieselregen zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin.
Eine Frau steht zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin. © picture alliance / dpa / Teresa Fischer
Von Jochanan Shelliem · 13.02.2015
Bei einer Debatte in Frankfurt sprachen Nachfahren von prominenten Nazis über ihre Familiengeschichten – es ging um diffuse Schuldgefühle und das allmähliche Begreifen. Auch Michel Friedman und Martin Walser waren zu Gast.
Identität, dieser fragile Kern einer jeden Persönlichkeit, erwies sich in den folgenden Diskussionen als das Lackmuspapier jeder noch so rationalen Auschwitz-Diskussion, wobei dies sowohl für die Kinder und Enkel der Lagerüberlebenden wie der Täter gilt. Symptome mancher Täterfamilien ähneln den Verdrängungsmechanismen ihrer Opfer.
Niklas Frank, Sohn des Reichs-Generalgouverneurs von Polen Hans Frank, hat die Abrechnung mit seiner Täterfamilie veröffentlicht. Seine Aufarbeitung begann nach 1945 mit einem Schock, wie er in der Debatte "Erben der Shoah" am vergangenen Samstag erläuterte:
"Im Sommer '45 kamen die ersten nunmehr demokratischen Zeitungen raus, und da waren Fotos drin von Leichen – KZ-Leichen – darunter auch Kinder meines damaligen Alters, und drunter stand immer Polen. Und ich wusste ja, Polen gehört uns. Und das war ein großer Schock, den übrigens auch mein ältester Bruder, elfeinhalb Jahre älter als ich, genau so empfunden hat. Er sagte dann auch zu meiner Mutter: Jetzt geht es mit den Franks wirklich bergab."
Heinrich Himmler galt als das Scheusal der Familie, berichtete Katrin Himmler, Enkelin von Ernst Himmler, dem Bruder des SS-Reichsführers. Die Großmutter reagierte auf Fragen nach der Vergangenheit spontan mit Herzbeschwerden. Katrin Himmler, die Großnichte, wuchs mit einem diffusen Schuldgefühl heran, bis der US-Fernsehvierteiler "Holocaust", 1978 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt, ihr das Leid der Opfer erschloss:
"In meiner Familie war es immer so, dass wir dank meines Vaters gewusst haben, dass wir mit Heinrich Himmler verwandt sind. Da wurde immer offen darüber gesprochen. Und es war auch bei uns so, dass es nicht den einen Zeitpunkt gab, an dem wir aufgeklärt wurden über unsere Familiengeschichte, sondern allmählich kamen immer mehr Bausteine dazu. Wir hatten erst ein sehr vages Wissen und dieses diffuse Schuldgefühl, diese Beklemmung, dieses Gefühl von Irgendwie-belastet-zu-sein in der Familie, ohne dass wir das als kleine Kinder wirklich begriffen haben, das wurde dann allmählich immer mehr aufgefüllt durch Fakten, die wir erfahren haben."
Täter wollen die Opfer sein
"Meine Eltern waren traurige Menschen", sagte Michel Friedman, dessen mediengeschulte Stentorstimme an diesem Wochenende zuweilen sehr verletzlich klang. Der Psychotherapeut Al Paso nennt die daraus resultierende Deformation der Nachgeborenen "Roles with holes" – Kinder, Verwandte, Enkel der Überlebenden, alle verhöben sich bei den Anstrengungen, die Überlebenden zu trösten.
Michel Friedman: "Das Furchtbare war, und Herr Frank hat es angesprochen, dass man damit relativ isoliert war. Wir waren mit unserer Trauer in diesem Land relativ allein gelassen. Man spürte die Sehnsucht, was auch immer diffus 'Täter' bedeutete in eine Umwidmung: Wir sind Opfer. Wir Deutschen sind Opfer, man lässt uns nicht in Ruhe. Jetzt haben wir sogar eine pazifistische Bundeswehr, und immer wieder werden wir damit konfrontiert. Aber wir werden damit konfrontiert, weil die Familiengeschichten uns damit konfrontieren und solange wir daran nicht arbeiten, werden wir, wer auch immer und an welcher Stelle auch immer, Angst und Abwehr haben. Ich halte das für traurig und destruktiv."
"Wer der Folter erlag, kann nicht wieder heimisch werden in der Welt", schrieb der Auschwitz-Überlebende und Philosoph Jean Améry. In Alltagsbeobachtungen bestätigen das viele Nachkommen der Opfer, die seit Kriegsende schutzlos schweigen.
Wie Walser erlebte, was Juden fühlten
Erschreckend anders forderte Martin Walser im Gespräch mit Michel Friedman und Gerd Scobel seine Rehabilitation. Ein sichtlich gealterter Martin Walser war da zu erleben, der zahlreiche – leider eher seinen Blick entlarvende denn ihn als humanistischen Analytiker erweisende – Zitate deklamierte, um seine Sicht auf die deutsche Vergangenheit zu rehabilitieren.
Beispielsweise sein Abramowitsch-Büchlein. Der jiddisch schreibende Schriftsteller Mendele Moicher Sforim (1835-1917) aus Minsk, genannt Abramowitsch, ist ein Weltautor, der für Martin Walser zwischen Swift und Kafka steht. Er hat dem Schwaben die Verbrechen des Dritten Reiches so deutlich gemacht wie dem deutschen Fernsehpublikum 1978 der US-Fernsehvierteiler "Holocaust".
Walser: "Wenn man Abramowitsch liest, erlebt man erst, wie Juden fühlten, träumten, beteten, wie sie waren, dann wird es immer unbegreiflicher, dass Menschen abgerichtet werden können, so etwas zu tun, nämlich die umzubringen."
Scobel: "Brauche ich dazu Literatur?"
Hier prallten zwei Generationen aufeinander. Gert Scobel, Philosoph und Analytiker, der nach neuen Erkenntnissen sucht, Michel Friedman, scharfzüngiger Sohn jüdischer Eltern und Martin Walser, Nachkriegsschriftsteller, der die Welt als Kriegsschauplatz mit seinen Kritikern sieht. Und so erschöpfte sich der Abend auch. Begegnungen, Kritiken und Zitate wurden aneinander gereiht, Genugtuungen ausgebreitet, Rehabilitationen wurden aufgezählt. Nein, dieser Autor interessiert sich nur noch für seine eigenen neuen Kleider, nicht für die Welt.
Aber, so das Fazit der Frankfurter Podiumsdiskussionen, erst wenn Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus von allen Demokraten als Angriff auf den eigenen Humanismus begriffen und nicht als das Problem bedrängter Minderheiten delegiert wird, in der Gemeinschaft aller erst lässt sich das Wiederaufkeimen von Auschwitz verhindern. Mit diesem Schwerpunkt hat sich das Frankfurter Schauspiel erfolgreich als brandaktuelle Bühne einer nationalen Debatte positioniert.
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