"Er war ein Außenseiter im Zentrum"

Moderation: Jürgen König · 19.03.2007
Der Schriftsteller Friedrich Dieckmann hat den Literaturwissenschaftler und Sozialforscher Hans Mayer als "exzentrisch brillante hochdynamische und ungeheuer anregende Gestalt" beschrieben. Mayers Größe sei durch eine "offensive Haltung, die Verteidigung der Kultur, die Verteidigung der Literatur ja auch gegenüber der Eventkultur" gekennzeichnet. Dieckmann äußerte sich zum 100. Geburtstag Mayers.
Jürgen König: Hans Mayer: Wissenschaftler, Kulturkritiker, Schriftsteller. Geboren am 19. März 1907 in Köln, studierte Jura, Geschichte, Philosophie in Köln, Bonn und Berlin. Als Jude verfolgt, emigrierte er von 1933 bis 1945 in Frankreich und in die Schweiz, lehrte von 1948 bis 1963 Geschichte der Nationalliteraturen an der Universität Leipzig, verließ dann die DDR, wurde 1965 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Technischen Universität Hannover, lebte danach als Honorarprofessor in Tübingen. - Das sind so die äußeren Lebensdaten eines Mannes, über dessen Bücher, über dessen Größe wir sprechen wollen mit einem Schriftsteller, der in Leipzig Germanistik, Philosophie und Physik studiert und Hans Meyer sehr gut kennen gelernt hat. Guten Morgen Friedrich Dieckmann! Haben Sie Vorlesungen bei ihm besucht?

Friedrich Dieckmann: Ich habe Vorlesungen gehört bei ihm. Ich war nicht sein direkter Student, aber ich habe viele Vorlesungen gehört und war von Anfang an tief beeindruckt.

König: Wie war er in der Vorlesung?

Dieckmann: Er war von großer Dynamik, von großer Präzision, voller Witz. Also zum Beispiel eine Faust-Vorlesung erinnere ich, wo er den Famulus Wagner als eine Art Oberassistenten präsentierte. Es war vielleicht ein kleiner Seitenhieb auch auf die ihn umgebende Corona. Er hatte es nicht leicht in Leipzig. Er hatte auf der einen Seite Widersacher im dogmatischen Marxismus. Auf der anderen Seite war ja auch noch die, wie man damals sagte, bürgerliche Literaturwissenschaft sehr stark vertreten. Der Ordinarius für neuere deutsche Literatur war Hermann August Korff, und im Jahre 58 erst wurde Mayer der Nachfolger von Korff, der damals schon über 70 war. Also er war eine exzentrisch brillante hochdynamische und ungeheuer anregende Gestalt.

König: Wir haben in unserem Archiv gegraben und eine Selbstauskunft Hans Mayers gefunden, so war dieser O-Ton tituliert. Wir hören Hans Mayer über Hans Mayer:

Ich würde meinen, ich bin sicher von Geburt aus ein unduldsamer, ein ungeduldiger, sagen wir besser, ein jähzorniger Mensch. Und meine Jähzornanfälle haben wir auch manchen Ärger und auch manche Schwierigkeiten gebracht. Es hat sich ja herausgestellt, dass man doch eine bestimmte Lebensleistung vorlegen konnte, das, was Goethe, der mich mein ganzes Leben begleitet hat, die Entelechie genannt hat. In jedem Menschen ist ja etwas angelegt. Rückblickend ist das wohl der Fall gewesen. Ich bin gelassener geworden. Ich habe auch erkannt, dass eine Welt zu Ende geht mit diesem Jahrhundert. Ich nenne es immer das Ende der bürgerlichen Gesellschaft.

Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer über sich selbst. Friedrich Dieckmann, von Geburt an unduldsam, ungeduldig, jähzornig, und das habe ihm viele Schwierigkeiten eingetragen. Wie haben Sie das erlebt?

Dieckmann: Das habe ich niemals unmittelbar erlebt, aber die Geschichten, die über ihn kursierten, waren Legionen, und eine bestimmte Komik war auch mit diesem cholerischen …

König: Erzählen Sie zwei oder drei dieser Geschichten.

Dieckmann: Nein, die habe ich, wie gesagt, nicht unmittelbar erlebt. Insofern bin ich nicht zuständig. Ich erinnere mich nur, dass ich im Jahre 1957 durch einen Zufall Zeuge wurde eines der Gespräche, wo er sagte, nun bin ich 50, was soll denn nun jetzt eigentlich noch kommen? Und dann sagte er, und das hat sich mir auch eingeprägt, ein Abiturient des Jahres 1910 hätte eigentlich mehr gewusst als ein Professor des Jahres 1957.

König: Das sagen wir heute, die wir Pisa-kritisch mit uns umgehen.

Dieckmann: Die Resignation gegenüber dem Bildungsverfall war schon damals in ihm lebendig. Dagegen hat er angekämpft ein Leben lang. Ein Mann der Bildung, und zwar der offensiven Verteidigung von Kultur, das heißt einer kritischen Analyse, um Interesse zu wecken an dem, wofür er stand.

König: "Außenseiter" heißt das Buch, für das er heute noch berühmt ist. Ich glaube, er war in vielerlei Hinsicht ein Außenseiter: als Jude, als Homosexueller, aber auch als sehr bürgerlich Gebildeter in der aufblühenden DDR Anfang der fünfziger Jahre, als Marxist in einem Land, dessen Kulturfunktionäre das eigentlich nicht wollten, dass da plötzlich jemand wiederum mit bürgerlichen Autoren kommt, Proust, Gottfried Benn auf den Schild hebt.

Dieckmann: Er war ein Außenseiter im Zentrum, und das ist die eigentliche Dialektik. Das war er dann vielleicht nicht mehr in Westdeutschland, obwohl, Sie haben es mir eben erzählt, als Sie ihn hörten im Jahre 1980 in Hamburg, war der Hörsaal brechend voll. Und es gab eine Phase in Westdeutschland, wo er sich auch also getragen fühlen konnte von einer Bewegung, wie soll ich sagen, linker Kritik, und einer offensiv gesellschaftlich orientierten Literaturbetrachtung.

Er war in der DDR natürlich auch nicht a priori ein Außenseiter. Er hat mitgearbeitet an der Rede des Ministerpräsidenten Grotewohl zur Schillerfeier im Jahr 1955. Er hat einen Nationalpreis bekommen. Also seine widerständige Haltung wurde auch honoriert. Natürlich, es war ein Feld der verschiedensten Einflüsse. Es gab dann eine Phase schon vor 1961, wo die Dogmatiker Oberhand behielten, und dem hat er sich entzogen, indem er weggeblieben ist. Ein Außenseiter im Zentrum.

König: Was macht die Größe des Mayerschen Denkens und Schreibens aus?

Dieckmann: Diese offensive Haltung, die Verteidigung der Kultur, die Verteidigung der Literatur ja auch gegenüber der Eventkultur, die um sich gegriffen hat und die er in Westdeutschland ja schon sehr früh bemerkt hat. Auf der anderen Seite in der DDR der Hang zur obrigkeitlichen Kontrolle eines jeden Wortes. Dagegen stand er und dagegen hat er sich immer wieder aufgelehnt. Es ist eine enorme Produktivität: also die Bücher, die er allein in seinen zwei letzten Lebensjahrzehnten herausgebracht hat, da gibt es hochinteressante Reiseberichte - China, er hing an China.

Er hatte viele chinesischen Studenten in Leipzig mit ausgebildet und hat die dann wieder besucht, einmal 1980, und da waren noch die schweren Schatten der Kulturrevolution über dem Land, und noch einmal in den neunziger Jahren. Das waren Glücksmomente, da hat er sicher nicht viel gehabt, die hat er tief genossen. Er hat ein Buch über sein Verhältnis zur Musik geschrieben. Das ist eins seiner spätesten und vielleicht anrührendsten und fesselndsten Bücher, weil es ein sehr persönliches Buch ist.

Der Wissenschaftler, er redet nicht von sich, er redet von Literatur, obwohl Mayer – dafür war er berühmt – immer in der Vorlesung einfließen ließ: Als ich neulich mit Anna Seghers im Flugzeug zusammen nach Zürich flog … Also dafür war er berühmt, für die Bekundung, wie soll ich sagen, eines persönliches Verhältnisses zu vielen literarischen Größen. Andererseits holte er die ja auch alle in den Hörsaal hinein.

König: Der Kritiker Gerhard Schulz schreibt heute in der FAZ oder bespricht eine Briefausgabe, Briefe zur Leipziger Zeit Hans Mayers, und darin spricht Gerhard Schulz von "monumentaler Eitelkeit", die Hans Mayer zueigen gewesen sei, also ganz in dem Sinne, wie Sie es eben beschrieben.

Dieckmann: Nicht monumental, exzentrisch, wenn man so will. Nicht monumental, dazu war er nicht der Mann. Er war relativ kleingewachsen und hatte eine, wie soll ich sagen, kugelförmige Energie in den Jahren, wo er auch nicht so schlank war wie im Alter.

König: Dieses Buch geht von der Annahme aus, dass die Aufklärung gescheitert ist. So beginnt das Buch "Außenseiter". Teilen Sie diese Grundthese Mayers?

Dieckmann: Nein, und die wird auch durch das Buch nicht eigentlich belegt. Es ist eine provokative These am Anfang, die ist auch so ein bisschen wie ein Köder in die Rachen der Medien. Er gibt Exempel für Probleme von Außenseitern, aber wenn er um sich herumblickte, musste er schon große gesellschaftliche Fortschritte im Umgang mit Außenseitern, gesellschaftlichen Außenseitergruppen feststellen. Die hat er sicher nicht negiert.

Was er bemerkte, war der Verfall der Bildung, und in dem stehen wir mittendrin. Davor hat er früh gewarnt, also die Verbannung zum Beispiel der deutschen Klassik aus dem Literaturunterricht der westdeutschen Schulen, und zwar in allen Ländern mehr oder weniger, natürlich in Bremen mehr als in Bayern, dort aber auch. Das hat er schmerzlich empfunden und das hat vielleicht zu einem so scharfen Akzent beigetragen.

König: Meinte das auch, was wir eben von ihm selber gehört haben, dieses Jahrhundert sei das Ende der bürgerlichen Gesellschaft? Auch eine große, kühne These.

Dieckmann: Ja, wann soll man dieses Ende diagnostizieren? Das war auch ein bestimmtes Erschrecken derer, die 1990 in die westlich geprägte Gesellschaft eintraten vom Osten her, vom neuen deutschen Osten her. Dass sie die bürgerliche Gesellschaft, deren gute Seiten sie wieder zu finden hofften, eben doch schon unterminiert fanden von einer Event-, von einer Medienkultur, deren Schattenseiten zutage liegen.

König: Mayers Weggang aus der DDR, beziehungsweise er blieb fort, er war in Hamburg auf Vortragsreise und kam nicht zurück: Wie wurde das in der DDR wahrgenommen?

Dieckmann: Ich kann nur von mir selbst sprechen und einem Freundeskreis, wo mehrere sozusagen nahe Mayer-Schüler dabei waren. Mein Freund Jürgen Teller blieb auf einer fast fertigen Doktorarbeit sitzen. Viele fühlten sich von ihm, von diesem Weggang im Stich gelassen. Dieser Weggang ist ihm sicher schwer gefallen.

Er war auch nicht eigentlich hinlänglich begründet, denn es war ein subalterner Angriff in einer FDJ-Zeitung der Universität, und den hätte er unter Umständen von Berlin aus parieren können. Natürlich, Leipzig war im Bann eines widrig vulgären, ja, Parteiobersekretärs. Aber er saß eigentlich, wenn er sich hätte wehren wollen, am längeren Hebel. Ich glaube, es war die Sehnsucht nach Ernst Bloch, die ihn in den Westen trieb. Das war für ihn eine Orientierungsfigur allerersten Ranges. Bloch war im Westen geblieben, und er ging eigentlich zu Bloch.

König: Über 40 Bücher hat Hans Mayer geschrieben. Welche würden Sie empfehlen, wer jetzt Hans Mayer für sich entdecken möchte?

Dieckmann: Es gibt eine zweibändige Autobiografie, die zweifellos ein Hauptwerk ist, ein Lebensbericht in diesem Deutschland des 20. Jahrhunderts, in dem die Staatsformen sich ablösten, und zwar sich voneinander abstoßend ablösten, wie in keinem einzigen Land der Welt. Diese Erfahrung ist dort in einem sehr persönlichen Sinn wiedergegeben, das ist ein Hauptwerk.

König: Also "Ein Deutscher auf Widerruf"?

Dieckmann: Ja. Es gibt ein großartiges Werk, was niemand mehr kennt, drei Bände, "Meisterwerke deutscher Literaturkritik von Lessing bis Mehring". Das sollte man mal wieder drucken, das ist ein Kompendium allerersten Ranges, von ihm selbst noch kommentiert, eine Handreichung für die Studenten damals wunderbar und nach wie vor äußerst wichtig. Aber auch dieses Musikbuch, ein Spätwerk, ist lesenswert.

König: Welches meinen Sie?

Dieckmann: Ich habe jetzt den Titel nicht im Kopf, aber es sind seine Erinnerungen an Musiker und persönliche Begegnungen und Musikbegebenheiten. Natürlich gibt es große wichtige Bücher über Thomas Mann. Sein Buch über Büchner war ein frühes durchschlagendes Werk zur Wiedergewinnung dieses Autors. Über Wagner, über Thomas Mann, über Goethe, das sind alles Dinge, an denen niemand vorbeikommt, der sich mit diesen beschäftigt.

König: Vielen Dank für das Gespräch.