Er war dabei - das ist alles

22.04.2013
Der Schriftsteller Rolf Schneider war "in beiden Deutschländern irgendwie zu Hause und in keinem wirklich", wie er selbst sagt. Seine Autobiografie ist das Porträt eines merkwürdig unbeteiligten, unbehelligten und unberührten Zeitgenossen.
"Die Geschichte meines Lebens aufzuschreiben ist eine morbide und entwürdigende Angelegenheit", meinte einst der englische Autor Gilbert K. Chesterton. Rolf Schneider wählt diesen Satz als Motto seiner Memoiren, ohne sich von dieser Erfahrung abschrecken zu lassen. Vielleicht wächst das Autobiografie-Bedürfnis mit zunehmendem Schriftstelleralter; Rolf Schneider ist gerade 81 geworden.

"Schonzeiten" nennt er seinen Rückblick auf "ein Leben in Deutschland", und dieser Titel ist wohl keineswegs ironisch zu verstehen. Das Genre der Memoirenliteratur und das meint Chesterton mit "entwürdigend" ist grundsätzlich weniger kritisch als selbstbeweihräuchernd. Schon die Tatsache, dass einer sein Leben für so bedeutend hält, ist ja nicht unpeinlich und naturgemäß eitel. Dieser Eindruck ließe sich nur verhindern, wenn dabei tatsächlich eine ganz besondere Geschichte und eine überraschende Perspektive auf Leben und Weltgeschehen spürbar werden. Bei Rolf Schneider aber geht es im Grunde immer nur um die eine Botschaft: Ich war dabei. Und selbst diese Gewissheit ist schließlich zu revidieren, wenn er zu der zentralen Erkenntnis vordringt: "Es geschah, dass ich in beiden Deutschländern irgendwie zu Hause war und in keinem wirklich."

Tatsächlich hat Rolf Schneider einiges erlebt: Eine Kindheit in der NS-Zeit in Wernigerode im Harz. Ein Schriftstellerleben in der DDR, das er entlang der üblichen Ereignisse Revue passieren lässt: Mauerbau, 11. Plenum 1965, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker, Biermann-Ausbürgerung und schließlich der Ausschluss von neun Autoren aus dem Schriftstellerverband der DDR 1979. Immer war Rolf Schneider dabei, doch immer eher am Rand, und eher als nur halb involvierter Beobachter denn als ein die Ereignisse vorantreibender Akteur. "Es geschah": Das ist der Modus, in dem er Geschichte erlebt.

So gehörte er zwar zu den Unterzeichnern der Petition gegen die Biermann-Ausbürgerung, geriet aber eher zufällig als ungerufener Gast in die Runde der Autoren, die von Stephan Hermlin zusammengetrommelt worden war. Der Ausschluss aus dem Schriftstellerverband 1979 traf ihn; führte aber eigentlich bloß dazu, dass er sein Geld in der Folge vorwiegend im Westen verdiente, als Journalist, Theaterdramaturg und Autor fürs Fernsehen. Die Unzugehörigkeit in Ost und West resultierte aus diesem Grenzgängerdasein. Die doppelte Existenz mag ihre Härten und Schwierigkeiten gehabt haben, sie war aber gewissermaßen auch die Geschäftsgrundlage seines Autorendaseins bis zur Wende und noch darüber hinaus.

Dünne politische Einsichten
Einige gelungene, knappe Porträts sind in diesem Band enthalten, so von seinem Hochschullehrer Victor Klemperer oder von dem Lyriker Peter Huchel, dem Schneider freundschaftlich verbunden war. Andere Episoden enthalten dagegen nichts, was man nicht schon hundertmal so oder so ähnlich gelesen hätte: der Bericht über eine Tagung der Gruppe 47 etwa, oder ein Besuch im Konzentrationslager Auschwitz, der keinen anderen Erkenntniswert besitzt als den, dass es schrecklich ist, sich diesem Ort auszusetzen, und dass Rolf Schneider auch dort gewesen ist. Die politischen Einsichten sind dünn und allzu häufig dieser Art: "Der Bolschewismus verkam durch seinen Mangel an Demokratie und die Unfähigkeit, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen." Das könnte so auch in jeder x-beliebigen Politikerbiografie stehen.

Ein ausuferndes Kapitel über den österreichischen Schriftsteller Norbert C. Kaser ist nur deshalb im Buch, weil Schneider einen Essay im "Spiegel" über Kaser schrieb und sich das Verdienst anrechnet, zu dessen Verbreitung beigetragen zu haben. Warum "Ein Leben in Deutschland" dann aber mit einer Hongkongreise ausklingt, erschließt sich überhaupt nicht, denn auch aus China ist nichts zu erfahren, was über eine flüchtige Reisereportage hinausginge.

So bleibt das Selbstporträt eines merkwürdig unbeteiligten, unbehelligten und unberührten Zeitgenossen, der blass wie ein Phantom durch die Zeitgeschichte wandert. Es entsteht kein persönliches Bild eines leidenden, lebenden Menschen, aber auch keine brauchbare historische Analyse. Rolf Schneider war dabei. Das ist alles. Die "Schonzeiten" des Titels lässt er vor allem sich selbst gegenüber gelten in dieser eigentümlich schmerzfreien Lebensgeschichte aus dem geteilten Deutschland.

Besprochen von Jörg Magenau

Rolf Schneider: Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland
be.bra Verlag, Berlin 2013
316 Seiten, 22 Euro
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