"Er lässt sozusagen die Geige singen"

Dorothee Oberlinger im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 08.01.2013
Arcangelo Corelli hat viele Komponisten geprägt, die allesamt bekannter sind als er: Johann Sebastian Bach oder Antonio Vivaldi sind nur zwei davon. Zu seiner Zeit aber war er "wirklich eine Größe", sagt Dorothee Oberlinger, Professorin am Salzburger Mozarteum.
Liane von Billerbeck: Die Musikerin, die jetzt bei mir im Studio ist, dürfte weltweit eine der Besten in ihrem Fach auf ihrem Instrument sein: Dorothee Oberlinger. Ach was, sie ist einfach die beste Blockflötistin, so konnte ich das vielfach lesen und auch hören, als ich mich auf dieses Gespräch vorbereitet habe. Dorothee Oberlinger ist zudem Professorin am Salzburger Mozarteum, leitet dort das Institut für Alte Musik und verantwortet musikalisch auch die Arolser Barockfestspiele. Herzlich willkommen, Dorothee Oberlinger!

Dorothee Oberlinger: Hallo, guten Tag!

von Billerbeck: In meinem Beruf gibt es ja so Momente, da sagt man sich: Schön, da hast du eine wunderbare Instrumentalistin zu Gast und darfst dir vorher noch Musik anhören - musst sie dir quasi anhören -, die Musik von Arcangelo Corelli, der, als er heute vor 300 Jahren starb, ja einer der großen Komponisten, großen Künstler seiner Zeit war, auch, wenn er, wie man manchmal so den Eindruck hat, einer breiten Öffentlichkeit längst nicht so bekannt ist wie ein Johann Sebastian Bach. Arcangelo Corelli, 1653 bis 1713, der war mehr als ein begnadeter Geiger und angesehener Komponist - Frau Oberlinger, was hat Corelli geleistet?

Oberlinger: Ja, Corelli war eigentlich ein Erneuerer der barocken Instrumentalmusik. Er hat interessanterweise gar keine Gesangskompositionen hinterlassen, Vokalkompositionen, sondern nur Instrumentalmusik, also Triosonaten für Violine, den Opus fünf, das sind Solosonaten für die Geige mit Basso continuo, und eben die berühmten Concerti grossi, den Opus sechs, die ja dann so posthum erst veröffentlicht wurden im Druck. Und er hat mit diesen Concerti grossi und eigentlich überhaupt mit seinen Instrumentalkompositionen viele, viele Komponisten in Europa geprägt, so eben Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Antonio Vivaldi. Er hatte viele Geigenschüler in ganz Europa, die dann dort komponierten und sein Werk sozusagen verstreuten, verbreiteten.

von Billerbeck: War er zu seiner Zeit, ist er als so ein bedeutender Komponist erkannt worden?

Oberlinger: Ja, zu seiner Zeit absolut, das sieht man eben daran, dass sein Opus fünf beispielsweise, was 1700 - das ist ja eine magische Zahl - veröffentlicht wurde, sehr bald auch in anderen Städten wiederveröffentlicht wurde, und sich auch die Komponisten, die europäischen, diese Drucke besorgten, um das studieren zu können. Das heißt, er war wirklich eine Größe zu seiner Zeit.

von Billerbeck: Es gab einen richtigen Corelli-Hype - kann man sich das so vorstellen?

Oberlinger: Absolut, zum Beispiel eine Stadt, in der es einen echten Corelli-Hype gab, war London, da gab es ja solche Clubs, wo man sich traf und auch Musik machte, Musik hörte, und dort spielte man seine Stücke und fing auch an, darüber zu improvisieren. Das kann man sich so vorstellen, wie man heute zum Beispiel so einen Jazz-Standard wie "Round Midnight" hat oder auch was anderes, und dann darüber anfängt, über diesen Standard zu improvisieren. So hat man das mit Corelli-Stücken dann irgendwann gemacht, und die Concerti grossi wurden bis Mitte des 19. Jahrhunderts auch noch weiter in der Aufführungspraxis aufgeführt, was bei anderen Barockstücken nicht so war. Da gab es erst mal eine große Lücke bis zur Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert.

von Billerbeck: Corelli war ja auch selber ein begnadeter Geiger. Hat es auch dazu geführt, dass seine Kompositionen komplizierte Stücke waren, also dass man wirklich was können musste, um Corelli spielen zu können?

Oberlinger: Also diese Kompositionen sind zum Teil sehr virtuos, und Opus fünf ist auch sehr stark verziert. Man weiß nicht genau, ob diese sehr rauschenden Ornamente original aus des Meisters Hand sind, aber man weiß, dass er wahrscheinlich so improvisiert hat. Das heißt, er kann alle Vorzüge seines Instrumentes, der Geige, zeigen, mit Doppelgriffen, mit verschiedenen Lagen, mit großer Virtuosität, aber seine Musik steht auch für einen gewissen, man kann fast sagen, Klassizismus, von der Architektur, und großer Gesanglichkeit, die sich in den langsamen Sätzen zeigt.

von Billerbeck: Und gerade die Geige ist der menschlichen Stimme irgendwie sehr nahe - weil Sie den Ausdruck Gesanglichkeit benutzen -, hängt das auch damit zusammen, dass er eben sehr viel für Geige komponiert hat?

Oberlinger: Ja, also er lässt sozusagen die Geige singen, und ich finde, eigentlich deswegen kann man diese Stücke auch sehr gut auf der Blockflöte spielen, weil die Blockflöte ähnlich wie die Geige dieses virtuose, aber auch das gesangliche Element in sich trägt.

von Billerbeck: Das wäre meine nächste Frage gewesen, denn ich habe hier einen Flötistin sitzen, wir reden über einen Komponisten, der sehr viel für Geige gemacht hat, der ja auch die Entwicklung der Geige, des Instruments, was ja damals noch ein junges Instrument war, maßgeblich weiterentwickelt hat. Ich habe da ein Zitat gefunden vom Geiger Johannes Pramsohler, der gesagt hat, die Musikgeschichte teile sich auf in die Zeit vor und in die Zeit nach Corelli. Nun sind Sie ja Flötistin - teilen Sie diese Einschätzung?

Oberlinger: Man kann schon sagen, dass er diese Sonatenform sozusagen geprägt hat. Er hat ja in Opus fünf eine Sammlung von sechs Kirchensonaten, Sonata da chiesa nannte sich das, und sechs Kammersonaten herausgebracht. Und dieses Modell benutzen eben Komponisten wie Bach oder Händel, auch wenn sie vielleicht nicht dazu sagen, das ist jetzt eine Kirchensonate oder eine Kammersonate, so wird doch dieses Kompositionsmodell angewendet. Und genau so auch das Modell der Concerti grossi, das heißt, dass man verschiedene Soloinstrumente hat, die miteinander kommunizieren, und es gibt ein Tutti mit den Ripieni, was heißt gestopft - wir kennen das von den Cannelloni, die beim Italiener mit etwas gefühlt sind, das sind die Ripien-Instrumente -, und dazu gibt es dann diesen Wechsel mit den Soli. Und dieses Modell, das hat Corelli geprägt, und danach, nach seinem Tode, wurde das eben übernommen von anderen Barockkomponisten.

von Billerbeck: Was verbindet Sie eigentlich mit Corelli, was ist so Ihre Beziehung zu diesem Komponisten?

Oberlinger: Also es ist eigentlich so, dass diese Sonaten, die ich auch eingespielt habe auf meiner CD "Italian Sonatas", sehr viele Affekte, sehr viele Emotionen in sich bergen. Das heißt, dass man eigentlich alle menschlichen Regungen hier findet. Man findet sehr, sehr melancholische, sehr sanguinische Temperamente, also eigentlich die verschiedenen menschlichen Temperamente wieder, und man findet eben das kontemplative Element genau so wie das sehr quirlige, virtuose Element. Und dadurch ist eigentlich für jeden etwas dabei. Und ich spiele diese Sonaten sehr gerne in Konzerten, und wenn ich dann andere Barockmeister spiele, dann finde ich so viel von Corelli wieder darin, also ich finde wirklich die Kindeskinder wieder.

von Billerbeck: Der Barock galt ja als das goldene Zeitalter der Blockflöte. Ist das auch der Grund, weshalb Sie Blockflöte spielen?

Oberlinger: Also Barock ist natürlich mit mein Kernrepertoire sicherlich, weil die Blockflöte da als Soloinstrument brillierte. Das sehen wir an den brandenburgischen Konzerten von Johann Sebastian Bach ...

von Billerbeck: Die spielen Sie heute Abend im Konzerthaus Berlin.

Oberlinger: ... - richtig! -, oder von Solokonzerten von Antonio Vivaldi zum Beispiel, der ja sein Mädchenpensionat da hatte, also die Pieta in Venedig, wo es diese Mädchen gab, die diese Concerti spielten. Das heißt, das ist ein großes Kernrepertoire für die Flöte, aber es geht weiter im 20. Jahrhundert und im 21. Jahrhundert auch mit der Avantgarde. Diese Musik interessiert mich sehr, aber auch die Musik vor dem Barock, also Renaissance und Mittelalter spielt eine große Rolle für die Blockflöte.

von Billerbeck: Wir bleiben jetzt natürlich bei Corelli und bei einem Stück, das er für Blockflöte arrangiert hat, das Allegro aus der Sonate C-Dur, Opus fünf, Nummer drei.

((Musikeinspielung))

Der letzte Satz, das Allegro, aus Arcangelo Corellis Sonate C-Dur, Opus fünf, Nummer drei, gespielt von der Blockflötistin Dorothee Oberlinger, die mein Gast ist. Frau Oberlinger, wenn man sich das offizielle Werkverzeichnis von Corelli ansieht, dann ist das verhältnismäßig klein. Der Mann ist 60 Jahre alt geworden, 48 Triosonaten, 12 Sonaten für Violine und Continuo, 12 Concerti grossi - war der Mann ein Perfektionist, denn es gab ja weit mehr, was er geschrieben hat?

Oberlinger: Na, man kann natürlich gar nicht mit Sicherheit sagen, ob das alle Werke waren, die er geschrieben hat. Die sind im Druck erschienen, und von denen wissen wir heute, aber ob es andere Werke gab, das wissen wir nicht genau. Es war beispielsweise so, dass die Concerti grossi, die nach seinem Tode noch erst im Edeldruck sozusagen veröffentlicht wurden, schon viel früher zur Aufführung kamen, wahrscheinlich in den 80er-Jahren des 17. Jahrhunderts, und in riesengroßen Besetzungen, also mit 150 Spielern unter Papst Innozenz. Das heißt, dass er vielleicht doch schon lange an diesen Stücken gefeilt hat, so wie Sie sagen, und ein Perfektionist war, und dann irgendwann gesagt hat, so, und jetzt ist es druckreif, und jetzt bereiten wir mal den Druck vor. Aber wir wissen natürlich nicht genau, ob es noch andere Werke gab, von denen wir heute nichts wissen.

von Billerbeck: Vielleicht gibt es ja da noch Entdeckungen.

Oberlinger: Wer weiß?

von Billerbeck: Nun ist das ja so, dass - Sie haben das auch vorhin erwähnt - dass Corelli auch nach seinem Tod nicht vergessen wurde, seine Musik ist bis ins 19. Jahrhundert in ganz Europa gespielt worden, besonders eben die Concerti Grossi. Aber zu seinen berühmtesten Stücken - auch heute noch, 300 Jahre nach seinem Tode - da gehören immer noch die Folia-Variationen. Das ist so ein Stück aus dem 17., 18. Jahrhundert, das haben viele Komponisten bearbeitet und variiert. Was macht denn die Faszination dieses Stückes, das auch Sie spielen, in der Bearbeitung von Corelli aus?

Oberlinger: Ja, also La Folia, das heißt ja übersetzt die Verrücktheit, der Wahnsinn, und es ist eben ein Sarabanden-Thema, was ein bestimmtes harmonisches Schema hat im Bass, das sich durch das ganze Stück wiederholt, und dann gibt es Variationen, die verschiedene Charaktere tragen. Und jeder Komponist geht eben anders damit um, es gibt auch von Vivaldi zum Beispiel eine Triosonate für zwei Violinen und eben diese Folia von Corelli für Violine und Bass. Und sie ist, ja, man kann auch wieder sagen, sehr klassisch, weil er ganz verschiedene Tanzsatz-Charakteristika bringt, eine Gigue oder eine Sarabande, er bringt auch einen Adagio-Einschub, eine Art Recitativo, fast jazzartige Rhythmen, die gegeneinander gehen mit dem Bass, sodass es sehr vielschichtig ist, und das über zehn Minuten sozusagen sich aufbaut in einer großen Klimax und dann entlädt am Ende.

von Billerbeck: Das wollen wir natürlich jetzt hören: Sonata G-Moll, Opus fünf, Nummer zwei, La Folia, das Adagio und Allegro von Arcangelo Corelli.

((Musikeinspielung))

Adagio und Allegro aus der Sonata G-Moll Opus fünf, Nummer zwei, La Folia von Arcangelo Corelli, der heute vor 300 Jahren gestorben ist. Und mein Thema im Gespräch mit der Blockflötistin Dorothee Oberlinger. Frau Oberlinger, wenn man Konzertbesucher nach einer Rangfolge bei den Instrumenten fragen würde, dann kämen sicher Geige und Klavier auf die vorderen Plätze, und die Blockflöte, vermute ich mal, würde weiter hinten bleiben. Ist das ein unterschätztes Instrument?

Oberlinger: Ja, es ist so, dass viele Leute die Blockflöte nicht als professionell gespieltes Instrument kennen, sondern sie sind vielleicht damit in Berührung gekommen mal in der Schule und haben in einer Schulklasse von 30 Kindern gemeinsam auf irgendwelchen Plastikflöten ...

von Billerbeck: ... rumgefiept.

Oberlinger: ... rumgefiept, genau. Und von daher sind sie dann erst mal geschockt vielleicht von diesem Instrument und sehr positiv überrascht, wenn sie hören, wie es professionell gespielt ist. Das heißt, es ist nach wie vor vielleicht ein Instrument, was nicht so oft wie eine Geige oder ein Klavier in einer Philharmonie abends im Programm auftaucht, aber man kann sagen, dass die Blockflöte wieder eine große Renaissance erlebt, es auch bekannte Spieler gibt, die jetzt also wirklich auch zu hören sind auf den Konzertpodien und im Radio zum Beispiel.

von Billerbeck: Sie ja auch, und Sie gehen auch davon aus, dass die Bedeutung Ihres Instrumentes wieder zunimmt?

Oberlinger: Ja, also man kann sagen, man kann an fast jeder Musikhochschule das Instrument als Konzertfach studieren, es gibt ein sehr hohes Niveau von den Studenten, und es gibt mittlerweile in allen Ländern auf der Welt eigentlich professionelle Blockflötisten, also auch in Japan oder in Südamerika. Also überall wo ich auch hingereist bin, habe ich wunderbare Blockflötisten kennengelernt. Also es ist absolut im Fokus, doch.

von Billerbeck: Die Rangfolge wird sich ändern. Dann hören wir zum Schluss noch ein Stück, auch gespielt von Dorothee Oberlinger, die Sonata E-Moll, Opus fünf, Nummer acht, auch ein Stück, das Sie besonders mögen?

Oberlinger: Ja, deswegen, weil es ganz spezielle Verzierungen hat, die hat man in einem anonymen Manuskript, was heute in New York liegt, gefunden, und die reichern das Stück noch einmal ganz besonders an.

((Musikeinspielung))

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