"Er hat jede Woche einen 'Knallfrosch' abgeliefert"

Moderation: Holger Hettinger · 27.12.2007
Der Publizist Sebastian Haffner wäre am 27. Dezember 2007 100 Jahre alt geworden. Die Malerin Sarah Haffner erinnert sich an das Wirken ihres Vaters als politischer Schriftsteller und die schmerzliche Rückkehr der Familie Anfang der 50er aus dem weltstädtischen London in das "piefige Berlin".
Holger Hettinger: Heute vor 100 Jahren wurde der Publizist Sebastian Haffner geboren. Haffner war einer der wichtigsten publizistischen Stimmen der Bundesrepublik. Seine Artikel, zunächst in der "Welt", später im "Stern", waren pointiert, analytisch und wortgewaltig. Sei es in Haffners Einsatz für die Studentenbewegung oder in seiner positiven Haltung zu der neuen Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt. Haffners Bücher über Churchill, Hitler und das Kaiserreich zählen zu den Standardwerken dieser Themenkreise. Über Sebastian Haffner und seine Sicht auf Deutschland spreche ich nun mit Sarah Haffner, der Tochter von Sebastian Haffner. Sie ist Malerin und schreibt gelegentlich Bücher. Ich grüße Sie, Frau Haffner!

Sarah Haffner: Guten Tag!

Hettinger: Ihr Geburtsland England war für Ihren Vater ein Fluchtpunkt. Er ist vor den Nationalsozialisten geflohen, weil er mit einer jüdischen Frau liiert war. Was bedeutete es für Ihren Vater, dass Hitler an die Macht kam?

Haffner: Es ist ein bisschen schwierig für mich, für meinen Vater zu reden. Man kann ja sehr viel in seinem Buch "Geschichte eines Deutschen" lesen. Er hatte vorher eine Art Lebensplan sich zurechtgelegt. Er wollte in die Verwaltung gehen, in die höhere Verwaltung, wenn es gut ging, wie er sagte, Staatssekretär werden.

Hettinger: Er war ausgebildeter Jurist?

Haffner: Er war ja Jurist. Aber das hatte er eigentlich seinem Vater zuliebe gemacht. Er wollte eben einen Brotberuf, wenn man es so nennen kann, haben und daneben literarisch schreiben. Und hatte auch als junger Mann, so Anfang 20, ein paar Romane geschrieben, ein bisschen im Stil von Vicky Baum. Ich würde mal sagen, es ist ein Glück, dass er ein politischer Schriftsteller geworden ist. Aber diesen Plan hat Hitler ihm einfach durchgestrichen. Und deswegen, weil er das Nazideutschland nicht ertragen konnte, ist er nach England gegangen. Meine Mutter war jüdischer Abstammung, um mal Hitler zu zitieren. Sie war aber nicht eigentlich mehr jüdisch. Die Familie meiner Mutter hat sich 1859 taufen lassen, war also sehr früh assimiliert. Meine Mutter war in der evangelischen Kirche und ist 1933 ausgetreten. Trotzdem musste sie natürlich weg. Und das war der andere Grund, warum mein Vater gegangen ist.

Hettinger: Hat sich Ihr Vater jemals darüber geäußert, wie er sich gefühlt hat in diesen ersten Jahren in England, 1940?

Haffner: Das war eine Generation, die nicht über Gefühle gesprochen hat. Das galt ein bisschen als verpönt. Ich habe aber aus den Erzählungen, als wir, mein Bruder Oliver vielleicht zwölf oder 13 war und ich ein Jahr jünger oder etwas über ein Jahr jünger, da fingen meine Eltern an zu erzählen. Und ich konnte mir einiges zusammenreimen aus dem, was sie erzählt haben. Es muss sehr schwer gewesen sein am Anfang. Meine Eltern sind deswegen zunächst nach Cambridge gegangen, weil dort der Bruder meiner Mutter, ein Mathematikprofessor, war. Und dann wurde mein Vater Redakteur bei der deutschen Immigrantenzeitung "Die Zeitung". Das hat er gemacht, bis er interniert wurde, das erste Mal im Februar 1940. Er wurde deswegen interniert oder er kam in ein Lager, was für sehr suspekte Leute gedacht war, und zwar deswegen, weil er weder politisch noch rassisch verfolgt war. Und er galt deswegen als möglicher Spion. Und da war er aber nicht sehr lange drin. Während er in diesem Lager war in Südengland, in Devon, wurde ich geboren. Und es wurde auf dem Camplautsprecher, das hat er mir später erzählt, ausgerufen: A little black head girl from Mister Pretzel. Damals hieß er noch Raimund Pretzel, hat sich erst später, als er wirklich anfing zu schreiben, umbenannt in Sebastian Haffner, um seine Familie zu schützen. In diesem Lager war er anderthalb oder zwei Monate. Und dann im Mai 1940 wurden beide Eltern interniert, beide auf der Isle of Man, aber in getrennten Lagern, konnten sich auch dort nicht sprechen. Mein Vater kam aus diesem Lager früher heraus, weil das Buch "Germany: Jeckyll and Hyde" erschien im Sommer 1940 und fand eine gewisse Achtung auch bei Parlamentariern. Und die haben gesagt, diesen Mann wollen wir nicht in der Internierung haben. Meine Mutter kam erst im Oktober 1940 raus. Und kurz davor gab es eine Baby Competition. Und ich war das schönste Kind im Internierungslager. Dann bekam er daraufhin, auch auf dieses Buch hin, ein Angebot von David Astor, das war der Herausgeber des "Observer", erst als freier Mitarbeiter beim "Observer" anzufangen. Und 1942 sind meine Eltern dann nach London gezogen. Und damit war zumindest die existenzielle Not vorbei.

Hettinger: Ein geachteter Journalist im England der Kriegs- und vor allen Dingen auch der Nachkriegszeit. Was hat Ihren Vater dennoch bewogen, 1954 zurück nach Deutschland zu gehen?

Haffner: Er war nicht nur ein beachteter Journalist, sondern für ihn war ganz wichtig, die Engländer über Deutschland aufzuklären und auch eine Rolle zu spielen im Krieg als Aufklärer, aber auch als Propagandist. Er hat auch Flugblätter entworfen. Dann kam, nachdem der Krieg vorbei war, und seine, ich sage mal, große Liebe Churchill von den Engländern abserviert wurde, und er hat Churchill wirklich geliebt. Er hat mal gesagt: Das Buch über Churchill war mit Liebe geschrieben.

Hettinger: Das spürt man.

Haffner: Ja, und das war sein Lieblingsbuch. Das war vielleicht ein Teil, aber ein anderer Teil war, dass er eben, man kann in der ersten Generation, es sei denn, man ist so jemand wie Dahrendorf, das sind aber Ausnahmen – Es ist sehr schwer Engländer zu werden. Ich war Engländerin sozusagen. Aber er fühlte sich nicht als Engländer. Und er hatte auch keine richtige Funktion mehr. Und dann gab es Krach mit David Astor. Das war vielleicht das Allerwichtigste. David Astor bot meinem Vater an, für ein höheres Gehalt nach Berlin zu ziehen und mein Vater nahm an, was für ihn aus seiner Sicht verständlich war, für meine Mutter war es tragisch. Meine Mutter, drei ihrer vier Geschwister waren in England, sie hatte sich dort eingelebt. Sie liebte das Haus und den Garten. Und letztendlich haben wir alle Nein gesagt und sind alle gegangen.

Hettinger: Wie sind Sie empfangen worden in Deutschland?

Haffner: Ach Gott, Sie wissen ja, wie Deutschland in den 50er Jahren war. Es war unglaublich kleinkariert. Und dann kamen wir aus dieser Weltstadt London, wo es wirklich sehr interessant war. Und mein ältester Bruder, mein Lieblingsbruder, der Sohn meiner Mutter, er war Maler geworden und hatte mich auch darauf gebracht. Und wir haben zusammen ausgestellt am Embankment, an der Themse. Und dann komme ich in diese piefige Berlin. Und ich habe gedacht, ich spinne. Wir wohnten in Lichterfelde-Ost, am Marienplatz, überall Kopfsteinpflaster drum rum.

Hettinger: Das ist die Großstadt weit, weit weg …

Haffner: Eichhörnchen auf dem Fensterbrett. Man hält es nicht aus.

Hettinger: Ihr Vater war Kolumnist bei der "Welt", einem Springer-Blatt. Bringt man auf den ersten Blick gar nicht so zusammen: der Liberale, Aufgeklärte bei der Springer-Presse.

Haffner: Das ist ja eine von den Sachen, die ich sehr an meinem Vater schätze, dass er, wenn ihm irgendwas nicht gepasst hat, weggegangen ist. Und er hat sich vom "Observer" getrennt letztendlich, weil die Haltung beim Mauerbau ihm zu weich war und ist dann zur "Welt" gegangen. Bei der "Welt" war er aber nur ein Jahr. Und hat sich von der "Welt" und auch "Christ und Welt", wo er auch geschrieben hat, getrennt, weil deren Haltung bei der "Spiegel-Affäre" ihm zu weich war. Und dann ist er zum "Stern" gegangen. Und da hat er, wie er immer sagte, jede Woche einen Knallfrosch abgeliefert.

Hettinger: Der "Stern" damals war was anderes als heute. Henri Nannen hat versucht, den "Stern" zu einem harten, politischen Blatt zu machen. Da kam ihm ja Sebastian Haffner gerader richtig, oder?

Haffner: Ja, zunächst mal. Aber dann kam die Studentenbewegung. Und da hat er einen Artikel geschrieben, der auch für den "Stern" zu hart war. Und dann fing er an, seine Bücher zu schreiben.

Hettinger: Woher kam diese Sympathie für die Studentenbewegung oder sein Protest gegen das Vorgehen der Berliner Polizei, solche Sachen?

Haffner: Es ist ein bisschen komisch, das zu sagen. Aber ich war ja unglaublich beteiligt an dieser Bewegung. Und ich glaube, ein bisschen hat er sich von mir mitreißen lassen. Und es gab ja auch eine Szene bei dem Vietnam-Kongress 1968. Da kam mein Vater mit. Das war das einzige Mal. Erich Fried war auch dabei. Mein Vater ungefähr 60, Erich Fried ungefähr 50, ich in der Mitte. Und alle drei, die beiden anderen keuchend und ich relativ energisch "Ho, Ho, Ho Chi Minh" brüllend. Aber das gab es nur einmal.

Hettinger: Das kann man sich gar nicht vorstellen, Sebastian Haffner, der Bildungsbürger?

Haffner: Mein Vater konnte auch manchmal ganz verwegen sein. Und ich denke, dass hat ihn schon auch ein bisschen beflügelt, diese jungen Leute, die aufgemuckt haben. Das mochte er, wenn Leute aufmuckten.

Hettinger: Auch die Signalkraft: In diesem Land geht ja doch was?

Haffner: Ja, ich glaube schon. Denn ich meine dieses andere Deutschland, er war ja zwar ein Kalter Krieger, nicht ganz am Anfang, aber dann. Aber er hatte große Sympathie für diese, gerade nach der "Spiegel-Affäre", Leute, die was für die Demokratie tun wollten.

Hettinger: Wie hat Ihr Vater die Wiedervereinigung erlebt?

Haffner: Er hatte ja in einem seiner Bücher, im Gegensatz zu mir, sage ich mal, prophezeit, dass es nie kommen würde. Ich hatte aber prophezeit, dass es kommen würde. Ich denke, er hat sich schon gefreut. Aber er sagte mal, er hätte sich selbst überlebt. Und da ist eine tiefe Traurigkeit auch drin. Und das Gefühl, manchmal am Ende seines Lebens, dass er umsonst gelebt hat, das kann man aber jetzt nicht sagen.

Hettinger: Sein Buch "Geschichte eines Deutschen" ist erst nach seinem Tod erschienen, hat große Furore gemacht. Warum hat er das Manuskript zurückgehalten, das Buch nicht selbst veröffentlicht?

Haffner: Er hat ja nie mit uns darüber gesprochen. Wir wussten ja gar nicht, dass es dieses Buch gibt. Mein Bruder hat es durch Zufall gefunden. Wir hatten uns das so aufgeteilt: Mein Bruder und seine Frau haben die Wohnung, es musste ja relativ schnell aufgeräumt werden. Und ich habe die Trauerfeier organisiert, die Kondolenzbriefe geschrieben, den Kontakt zum Bundesarchiv usw. hergestellt. Und während er am Aufräumen war, fand mein Bruder dieses Manuskript und fing an zu lesen. Ja, warum er das vorher nicht veröffentlicht hat, kann ich nur vermuten. Ich nehme an, weil es gerade das, was den großen Erfolg ausgemacht hat, dieses Persönliche, war ihm ein bisschen peinlich. Er war wirklich ein politischer Schriftsteller geworden und mochte das, glaube ich, nicht. Und seine Verachtung ist auch dadurch klar geworden. Er hat einfach irgendwann mal einen Teil des Manuskripts, ohne es zu kopieren, dem "Stern" geschickt. Und das wurde als irgendwas im "Stern" veröffentlicht. Er hat auch nie verlangt, dass das zurückkommt. Und es gab ziemliche Mühe, das zu finden, dieses Teil, was da fehlte, um das dann zu veröffentlichen.

Hettinger: Sarah Haffner im Studio von Deutschlandradio Kultur. Die Malerin ist Tochter von Sebastian Haffner, dem Publizisten und dem politischen Schriftsteller. Heute vor 100 Jahren wurde Sebastian Haffner geboren.
Mehr zum Thema