"Er hat die Ritualisierung der Erinnerung unterbrochen"

Moderation: Vladimir Balzer · 11.10.2012
Der Historiker Saul Friedländer hat "diese Sonntagsreden zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, diese Stereotypen der Erinnerung kritisch gegeißelt", sagt Peter Steinbach von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. So habe er den Deutschen zu einem selbstkritischen Nachdenken über ihre Art des Umgangs mit der Vergangenheit verholfen. Saul Friedländer feiert heute seinen 80. Geburtstag.
Vladimir Balzer: Er ist nicht nur der Chronist des Holocaust, er hat den Opfern auch eine Stimme gegeben als einer der Ersten in der Geschichtswissenschaft. Während andere sich ausschließlich den abstrakten Gesetzmäßigkeiten widmeten und die Täter erforschten, nahm er die Perspektive der unzähligen Opfer ein: Saul Friedländer. Heute wird er 80 und er kann auf solche epochalen Bücher wie das zweibändige "Das Dritte Reich und die Juden" zurückblicken oder auf seine berührende Autobiografie "Wenn die Erinnerung kommt". Letztens veröffentlichte er ein Buch über Kafka, eine betont biografische Lesart seiner literarischen Texte. Beide verbindet die Herkunft als Prager Juden.

Friedländer hat als Kind und Jugendlicher eine lange Flucht hinter sich: Seine Eltern und der Großteil seiner Familie wurden im Holocaust ermordet. Nach dem Krieg wurde er zum Chronisten des Verbrechens und zu einem der anerkanntesten Historiker der Schoah. Er lehrt und forscht in Israel, in den USA und auch in Deutschland.

Am Telefon ist jetzt sein Kollege Peter Steinbach, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Herr Steinbach, wofür steht für Sie der Historiker Saul Friedländer heute?

Peter Steinbach: Ich bin davon überzeugt, dass es eine Summe ist, die er aus einem sehr, sehr komplizierten, sehr verletzenden Leben gezogen hat. Er ist ja in Prag geboren, er wurde verfolgt, er musste im Untergrund in Frankreich überleben als eines dieser Kinder, die von ihren Eltern katholischen Institutionen anvertraut wurden, und er hat sich dann auf eine Weise der Geschichte seiner Ethnie, seines Volkes zugewandt, die Maßstäbe gesetzt hat, weil er sich nicht mehr auf den technischen Vorgang der Vernichtung konzentrierte, sondern die Menschen, die diesem Vernichtungsvorgang ausgesetzt waren, in das Zentrum rückte.

Das aber nicht so gefühlig und so einfühlsam und so emotional, wie das häufig seine Kritiker ihm unterstellt haben, sondern sehr, sehr reflektiert. Er ist eigentlich einer der ersten Zeithistoriker, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, die ihre eigene Erkenntnismethode kritisch reflektieren. Und das ist eine ungeheure Leistung.

Balzer: Er hat ja die Opfer sprechen lassen und damit ja auch seine Familie, die ja weitestgehend ermordet worden ist. Und damit genau provoziert er ja auch einen Streit unter Historikern, die ihm vorwarfen, eben zu stark involviert zu sein angeblich, um historisch genau und wissenschaftlich ausreichend distanziert erzählen zu können. Ja, darf man etwa nicht in die Geschichte involviert sein, um über sie erzählen zu können?

Steinbach: Er hat auf diese kritische Frage des damaligen Leiters des Instituts für Zeitgeschichte, Martin Broszat, ganz brutal, würde ich sagen, reagiert, indem er nämlich die Gegenfrage stellte: Wie ist es eigentlich mit eurer Emotionalität? Ihr, die ihr früher in der HJ wart, die ihr der nationalsozialistischen Bewegung vielleicht näher standet, als ihr euch das heute zugesteht? Und mit dieser Gegenfrage hat er eigentlich den Historikerstreit provoziert.

Er saß am Tisch, als Nolte, Ernst Nolte, der Historiker, der den Historikerstreit dann verursacht, seine Thesen aufstellte, und er hatte den Mut, im Grunde die Gesellschaft zu verlassen, weil er diese Art der identifizierenden Emotionalität nicht mehr aushielt. Er hat sich mit der anderen Seite identifiziert, aber er hat sich dieser Erinnerung niemals ausgeliefert. Er hat seine Erinnerungen beschrieben in einem Buch, das also auch wirklich Furore machte, "Wenn die Erinnerung kommt", und hat in diesem Buch sich selbst als Erinnernder in das Zentrum gerückt und damit eigentlich eine Methodologie der Erkenntniskritik in der Zeitgeschichte formuliert.

Man hat ja Juden, die sich zeithistorisch betätigten, immer unterstellt, sie wären Opfer ihrer eigenen Betroffenheit. Saul Friedländer zeigte, dass er das nicht war. Und ich finde, dass dieses angesichts seines Lebens, seiner Verstrickungen ... Er wurde ja eigentlich von einem Paulus – denn er hieß mal Paul als tschechischer Jude – zu einem Saulus, also hat genau einen umgekehrten Weg gegangen, und auch das finde ich also methodisch außerordentlich interessant.

Er hat uns eigentlich den Spiegel vorgehalten und hat gesagt, man kann eine Geschichte auch so schreiben, dass man sich den Opfern nicht ausliefert, aber den Opfern gegenüber Respekt erweist.

Balzer: Und was genau hat er mit dieser Art der Geschichtsschreibung erreicht bis heute?

Steinbach: Er hat die Ritualisierung der Erinnerung unterbrochen. Eines seiner wichtigen Bücher lautet "Kitsch und Tod" und erschien 1984, also 40 Jahre nach dem Ende des Krieges. Und er hat dort die Ritualisierung der Erinnerung, dieses Betroffenheitspathos, diese Sonntagsreden zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, diese Stereotypen der Erinnerung kritisch gegeißelt. Das steht eigentlich am Beginn eines selbstkritischen Nachdenkens der deutschen Nachkriegsgesellschaft über ihre Art des Umgangs mit der Vergangenheit.

Balzer: Wir sind im Gespräch mit Peter Steinbach, dem wissenschaftlichen Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, über einen der bedeutendsten Holocaust-Historiker, Saul Friedländer, der heute seinen 80. Geburtstag feiert. Herr Steinbach, wenn wir zurückschauen auf die Aufarbeitung der Deutschen und der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, dann sehen wir, dass Deutsche durch befreite KZ geführt wurden, in Weimar, diese Bilder haben wir vor uns, später gab es einen sehr späten Beginn der juristischen Aufarbeitung mit den Prozessen, dann kamen die Medien hinzu mit Fernsehserien wie "Holocaust", Kinofilme wie "Schindlers Liste". Haben all diese einzelnen Etappen das Geschichtsbewusstsein der Deutschen jeweils tatsächlich vertieft?

Steinbach: Ich denke, sie haben das Bild der Deutschen von ihrer Geschichte verändert. Sie haben aber vor allen Dingen eines deutlich gemacht: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte muss erkämpft werden. Sie muss im Grunde der lebenden Generation, der nachlebenden Generation abgerungen werden. Alle diese Ereignisse, die Sie erwähnen, die frühe Konfrontation in den Konzentrationslagern, die Prozesse, das "Tagebuch der Anne Frank", die Erinnerungen der "Weißen Rose" sind ebenso wie der Eichmann-Prozess oder der von Fritz Bauer verantwortete Auschwitzprozess fast so etwas wie Stacheln im Fleisch der deutschen Gesellschaft geworden. Sie haben keine Ruhe gegeben.

Nur: Wenn wir bei diesem Bild bleiben, dann müssen wir natürlich auch nach denjenigen fragen, die den Mut haben, diese Stacheln zu setzen, die den Mut haben, sich nicht anzupassen, die wie Fritz Bauer gesagt haben, das Gefühl kultivieren in einem fremden, in einem fast feindlichen Land zu leben.

Und ich denke, es ist wirklich an der Zeit, dass wir die Akteure der aktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in den Blick nehmen und auch würdigen. Dazu gehört auch Saul Friedländer. Dass er spät in den 80er-Jahren literarischen Erfolg hatte, dass er dann schließlich sogar erst in unserem Jahrhundert den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam, das ist ja Anerkennung einer Leistung, die man in den 60er- und 70er-Jahren bestritten hat, als Saul Friedländer daran erinnerte, dass die katholische Kirche, Pius XII., möglicherweise angesichts ihrer Kenntnisse vom Völkermord an den Juden versagt hatten, da wurde er geprügelt, da wurde er isoliert. Und er hat das ausgehalten wie andere auch, wie ein Wulf, ein Joseph Wulf, der eine Wannsee-Villa als Erinnerungsstätte forderte und so verzweifelte, dass er sich selbst das Leben nahm.

Und ich glaube, vor diesen Hintergrund gehört eben auch wirklich die Verbindung zwischen diesen Ereignissen, die Vergangenheit vor das Auge der Nachlebenden rücken, und denjenigen, die den Mut haben, diese Vergangenheit in Szene zu stellen, durch Bücher, wie sie eben Saul Friedländer geschrieben hat.

Balzer: Aber heute nun, gelten die Deutschen international als Vorbild für Geschichtsaufarbeitung? Oder ist das doch allzu viel Selbstgerechtigkeit der Deutschen, seht her, wie vorbildlich wir waren, jetzt ist dann aber auch mal gut?

Steinbach: Also, ich denke, es ist schon ein besonderer Weg der Auseinandersetzung, der sich in der deutschen Geschichte verkörpert. Der wird heute auch anerkannt in Südafrika, in Argentinien, in Lateinamerika. Bloß, er kann die Deutschen nicht selbstgerecht machen, denn es ist keine kollektive Leistung, die hinter dieser Art der Vergangenheitsbewältigung steht, sondern es ist die Leistung Einzelner, die sich zugemutet haben, sich querzustellen zu der gesamten Gesellschaft, und von dieser Gesellschaft Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit zu verlangen.

Balzer: Wie macht man es mit der nächsten Generation? Ich meine, die Zeitzeugen sterben aus, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust werden demnächst, ja, historisch, könnte man sagen. Was also mit der nächsten Generation, wie den Holocaust und die Verbrechen des 20. Jahrhunderts nahebringen? Wie macht man sie verständlich und greifbar?

Steinbach: Ich glaube, dass wir zum einen natürlich durch die Historiker viele Zeitzeugnisse bewahrt haben. Also, das, was aus den Quellen, die 50, 60 Jahre alt sind, zu uns spricht, sind ja auch Zeitzeugenberichte. Und auf der anderen Seite wird es ganz deutlich, dass die jetzt lebende Generation diese Art der Auseinandersetzung mit der zivilisationszerstörenden Tendenz, die sich auch in der deutschen Geschichte verkörpert, aufzunehmen hat.

Wir stecken ja mitten drin, vor unseren Augen finden ja weiter Verbrechen statt, gewissermaßen weiterhin vor aller Augen: Wir haben diktatorische Systeme, Völkermorde, wir haben Ausgrenzung, wir stehen zum Beispiel unmittelbar unter dem Eindruck der Behandlung der Sinti und Roma auf dem Balkan durch die französische Regierung, aber auch durch unsere Politik, wir haben gerade beobachten können einen Marsch von Asylbewerbern, von Menschen, die auf die Anerkennung ihres Notstatus warten, nach Berlin.

Das heißt also, wir können eigentlich das zivilisatorische Potenzial dieser Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nutzen. Und ich denke, dann bricht eigentlich dieses potenzielle Bedauern über den Verlust an Zeitzeugen in sich zusammen. Zeitzeugen sind wir alle und wir können nur Zeitzeugen sein, wenn wir den Willen aufbringen, genau hinzuschauen und uns gewissermaßen mit der Gesellschaft anzulegen, die wir auf ihre Maßstäbe humaner Orientierung verweisen. Ich glaube, dass wir diese Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte in eine Art Tendenz, in einen Willen zur menschenrechtlichen Erziehung einbinden müssen. Es handelt sich um ein Exempel dafür, wie wenig dazugehört, aus einem Mitmenschen einen Gegenmenschen zu machen. Das meinte übrigens auch Adorno, als er sagte, nein, wer sagt, Auschwitz war, der irrt: Auschwitz ist und Auschwitz bleibt.

Balzer: Bitte, Herr Steinbach, was wünschen Sie Saul Friedländer heute zum Geburtstag? Vielleicht einen geschichtsfreien Tag?

Steinbach: Nein, ein langes Leben, dass er uns noch weitere Bücher schenkt. Welcher 80-Jährige schafft es noch, ein Buch wie das von Kafka zu schreiben! Und ich würde mir wünschen, dass wir in zehn Jahren weitere Bücher von ihm bekommen, die so innovativ sind wie sein Kafka-Buch, das ich mit großem Vergnügen jedem Hörer empfehlen kann!

Balzer: Peter Steinbach, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Herzlichen Dank für dieses Gespräch! Zum 80. Geburtstag seines Kollegen Saul Friedländer.

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