Eoin McNamee: "Blau ist die Nacht"

Spiegelbild der verunsicherten nordirischen Gesellschaft

Politisches Graffiti im katholischen Viertel im nordirischen Belfast, aufgenommen 2015
Politisches Graffiti im katholischen Viertel im nordirischen Belfast © picture alliance / dpa / Antti Aimo-Koivisto
Von Thomas Jaedicke · 13.07.2016
Mit "Blau ist die Nacht" reiht sich Eoin McNamee ein in die kleine "Belfast Noir"-Szene, die die komplizierten Prozesse der nordirischen Gesellschaft über das populäre Krimigenre verhandelt. Im Mittelpunkt steht ein neurotischer Familienclan, der sich ständig selbst belauert.
Auch Eoin McNamees neuer Roman "Blau ist die Nacht" spielt in der komplizierten, konfliktbeladenen nordirischen Gesellschaft. Fast drei Jahrzehnte nach der irischen Teilung verströmt das großbürgerliche Belfast der späten 1940er-Jahre zwar nicht den Glanz Piccadillys, doch die hochangesehene Familie des protestantischen Generalstaatsanwalts Lancelot Curran, einem Mann mit politischen Ambitionen, verbreitet immerhin auch in der Provinz noch diese gewisse Londoner Nachkriegsnoblesse.
Zumindest nach außen. Denn hinter der hochherrschaftlichen Kulisse ist die Familie tief zerrüttet. Misstrauen und Lügen sind an der Tagesordnung. Mutter Doris, dem Wahnsinn verfallen, hütet in diesem Haus des Schweigens ihre bitteren Enttäuschungen wie einen Schatz. Kostbare Zeugnisse eines verschwendeten Lebens.
Sohn Desmond, eigentlich für eine steile Juristenlaufbahn vorgesehen, konvertiert zum Katholizismus, um Priester zu werden. Und Tochter Patricia ist ein ziemlich leichtes Mädchen.

Mord an einer Katholikin

Das ist der Hintergrund für einen knisternd spannenden "Belfast Noir": Nach einem Mord an einer Katholikin will Generalstaatsanwalt Curran den protestantischen Mörder hängen sehen, auch wenn ihn das in einem von einer korrupten, unionistischen Führung regierten Ulster die politische Karriere kosten wird.
Currans rechte Hand, Harry Ferguson, ein gewiefter Strippenzieher, der sich – immer auch den eigenen Vorteil im Blick – "mit abgebrühtem Straßenstolz" aus dem Belfaster Arbeitermilieu hochgetrickst hat, arrangiert einen schmutzigen Deal. So bleiben ihm und seinem Mentor, zumindest theoretisch, alle Chancen offen.
"Das Haar aufgesteckt, das Kleid schulterfrei. Sie gestikulierte, wenn sie sprach. Sie hauchte die Worte zur Seite, war voller Tricks und nervöser Gesten."
Eoin McNamee ist ein großer Meister der knappen Form. Mit wenigen Worten, wie flüchtig hingetupft, entwirft er sein Personal, das es tatsächlich gab. Denn: Auch "Blau ist die Nacht" basiert auf Fakten. Der neurotische Curran-Clan ist keine Fiktion.
Die tragische Familiengeschichte der Currans, einer verklemmten, sich ständig belauernden Zwangsgemeinschaft, stellt Eoin McNamee in seinem vielschichtigen Krimi wie ein Spiegelbild der verunsicherten nordirischen Gesellschaft dar.

Scheiternde Selbstverleugnung

Schon Ende der 1940er-Jahre zeichnet sich die Eskalation des seit Landesgründung schwelenden Konflikts zwischen Katholiken und Protestanten, der Ende der 1960er-Jahre offen ausbrechen wird, bereits immer stärker ab.
"Ferguson hatte seine Zukunft vor Augen. Als gebeugter Mann im Regen. Eingeweiht in die Lebenslügen der Menschen. Die Verderbtheit der Seelen. Gäbe es ein Reich der Täuschung und Arglist. Er wäre sein Herrscher und Gebieter."
Um im Lichte dieser Erkenntnis nicht an Selbsthass zu Grunde zu gehen, sind die Figuren in "Blau ist die Nacht" ständig gezwungen, ihr "wahres Ich" vor sich selbst zu verbergen. Eine Selbstverleugnung, die nicht gut gehen kann.
Eoin McNamee liefert keinen "Whodoneit". Mit "Blau ist die Nacht" reiht er sich in den kleinen Kreis der "Belfast Noir"-Szene ein, in dem etwa ein Dutzend Autoren immer wieder die komplizierten Prozesse der nordirischen Gesellschaft über das populäre Krimigenre verhandelt.

Eoin McNamee: Blau ist die Nacht
Aus dem Englischen von Gregor Runge
dtv, München 2016
265 Seiten, 16,90 Euro

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