Enttarnte Moral-Ikonen

29.05.2013
Es geht um Figuren wie Walter Jens, Günter Grass oder Martin Walser: In dieser Sammlung von Reportagen, Interviews und literarischen Analysen befasst sich der Journalist Malte Herwig mit der Generation der Flakhelfer - und bietet eine faszinierende Antwort auf die Frage nach ihrem langen Schweigen.
Dass die Bonner Republik auch von Leuten aufgebaut wurde, die kurz zuvor dem Massenmörderstaat gedient hatten, wussten wache Nachkriegskinder (West) auch ohne Propaganda (Ost). Wer sonst hätte irgendetwas aufbauen sollen - hüben wie drüben? Anders als Hitlerdeutschland hatten die Alliierten ja keine ethnische Vernichtung im Sinn. Sie hatten sogar 1948 die Entnazifizierung beendet. Zum Glück hatte "Bonn" eine intellektuelle Opposition gegen Adenauers Pragmatismus, der den Mythos von der Ahnungslosigkeit ("Opa war kein Nazi") am Blühen hielt.

Künstler, Intellektuelle, Politiker wie Günter Grass, Dieter Hildebrandt, Walter Jens, Niklas Luhmann, Hans Werner Henze, Hans Dietrich Genscher, Martin Walser, Erhard Eppler wurden zu Trägern, mit denen sich die erste haltbare liberale Demokratie institutionell und kulturell im deutschen Boden verankern ließ. Allen Globkes zum Trotz.

Nach dem Auschwitz-Prozess 1963 geriet das Verdrängen-Verschweigen-Verleugnen allmählich in Verruf, auch dank jener Männer der "Flakhelfer-Generation", zwischen 1926 und 1928 gnädig spät geboren, gegen Kriegsende Adoleszenten in der HJ. Nicht jeder schwang sich selbst auf zur Moralkeule oder zum praeceptor Germaniae novae, die meisten arbeiteten einfach zäh gegen das Schlussstrichgeschrei, viele wurden zu moralischen Ikonen der Enkelgeneration. Bis auch sie dann um die Jahrhundertwende aufflogen: Alle hatten sich persönlich in die NSDAP beworben, denn nur so und erst nach mehrfacher Überprüfung bekam man überhaupt die Chance, wie seit 2003 wissenschaftlich erwiesen ist.

Die Geschichte wiederholt sich also auf gruselige Weise: Diesmal sind sie es, die verdrängt und verschwiegen hatten und jetzt leugnen. Fast alle wollen ahnungslos kollektiv in die Partei geraten sein, als "Geburtstagsgeschenk" der HJ für Hitler. Jetzt animieren sie einen medialen Mainstream zu Schlussstrichappellen, richtet sich mehr Zorn gegen die Enttarner als gegen die Enttarnten.

Herwig urteilt nicht aus moralischer Überlegenheit
Der Journalist Malte Herwig recherchiert diesen späten Komplex der nicht vergehenden Vergangenheit seit langem. Er hat als Erster die komplette NSDAP-Kartei durchforstet, knapp elf Millionen Blatt, die seit 1945 in US-amerikanischer Obhut geruht hatten und erst 1994 vom Berlin Document Center ins Bundesarchiv übergingen. So lange hatte "Bonn", später "Berlin", das verhindern können, aus Furcht vor einer zweiten, diesmal feinmaschigeren Entnazifizierung. Jetzt hat Herwig seine Recherchen zusammengefasst zu einem Buch, genau genommen einer Sammlung von spannenden Reportagen, Interviews mit einigen der Ertappten und literarischer Analyse.

Herwig ist kein Historiker, das zeigt sich nicht nur am fehlenden Verzeichnis der Forschung anderer, auf die er aufbauen konnte. Auch sind die Themenblöcke stilistisch etwas disparat, man merkt, dass sie für verschiedene Medien geschrieben wurden. Trotzdem sind seine 300 Seiten über "Die Flakhelfer" äußerst lohnende Lektüre: Herwig urteilt nicht aus moralischer Überlegenheit ex post, er rückt die gelungene "Selbstentnazifizierung" so vieler als Kinder Nazifizierter in sinnvolle Dimensionen, und er wirft neue, wichtige Fragen auf.

Auf die notorische Frage nach dem Warum des Schweigens bietet er eine faszinierende Antwort. Was die Schriftsteller Grass und Walser betrifft, weist der gelernte Literaturwissenschaftler nach, dass sie sehr wohl und laut "geredet" haben, aber hinter ihrem eigenen Rücken und nur in ihrer Kunst. Was gleich eine neue Frage aufwirft: Warum hat darauf eigentlich niemand "gehört"?

Besprochen von Pieke Biermann

Malte Herwig: Die Flakhelfer
Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013
320 Seiten, 22,99 Euro
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