Entschleunigen

Loslaufen und loslassen

Monumentalkunstwerk "Molecule Man" auf der Spree Berlin.
Immer Richtung Osten vorbei am Kunstwerk "Molecule Man" auf der Berliner Spree. © picture alliance / dpa / Foto: Foto: Paul Zinken
Von Julius Stucke · 03.08.2014
Sommer: Zeit, um den Kopf frei zu bekommen und loszulaufen. Immer Richtung Osten, dorthin, wo die Sonne aufgeht und spüren, was das mit einem selber macht. Julius Stucke hat Smartphone mit GPS gegen einen Kompass eingetauscht und hat sich auf den Weg gemacht.
Vorspiel – die erste Hürde
Ins Aus manövriert. Hier komme ich nicht weiter. Berlin, jenseits des S-Bahn-Rings. Auf der Stralauer Halbinsel. Zwischen Spree und Rummelsburger Bucht. Mein Ziel liegt irgendwo da vorne. Genau genommen kenne ich es nicht. Habe kein genaues Ziel – nur eine Richtung. Immer Richtung Osten will ich laufen. Einen Tag lang.
Aber jetzt stehe ich am Ufer, schaue Richtung Osten – aufs Wasser. Leise plätschert es an den winzigen Streifen Erde auf dem ich stehe. Hinter mir ein mickriges bisschen Schilf – dafür eine ganze Menge neuer Häuser. Drei Enten ziehen gemächlich ihre Kreise. Ja, lacht mich ruhig aus – ihr könnt einfach schwimmen. Ich komme hier nicht weiter. Ins Aus manövriert.
Ich setze mich für eine Zigarette auf den Boden. Heute Früh bin ich losgelaufen – um loszulassen. Das war die Idee. Ohne Plan und Karte, ohne Smartphone-Map und GPS. Dafür mit einem Kompass. Immer Richtung Osten, dorthin, wo die Sonne aufgeht. Planen kann ich immer und tue es dauernd. Mein Tag ist strukturiert durch Konferenzen, Studiotermine, To-Do-Listen und mehrere Kalender. Den privaten – wer bringt das Kind zur Kita, wer holt es ab – und den beruflichen. Viele Stunden des Tages atme ich den Feinstaub des Druckers, klar und blau ist nicht der Himmel, sondern der Desktophintergrund. Guten Morgen, sie haben 24 ungelesene Mails! Und heute? Heute will ich einen Tag laufen – in eine Richtung – ohne Plan. Loslassen und schauen, was ich entdecke. Die Geschichten liegen doch angeblich auf der Straße, man muss sie nur mitnehmen.
Ich will wissen, ob das stimmt und wissen was die Planlosigkeit mit mir macht. Sonst nichts.
Am Ende dieses Tages werde ich um einen Sonnenbrand reicher sein, um lahme Beine, die mehr als 20 Kilometer spüren. Ich werde in den nächsten Stunden tricksen müssen, um weiter Richtung Osten zu kommen, mal mehr, mal weniger. Herr Bär und Frau Schlichting werden mich gerade noch davon abhalten, aufzugeben. Für eine Giraffendame wird mir die Zeit fehlen - und ich lerne den Chuck Norris der Himmelsrichtungen kennen, der zwar keine Interviews gibt aber trotzdem eine Menge Wissen preis. Aber der Reihe nach.
Und los! Start in Kreuzberg
Es ist wie immer und doch anders. Um 10.00 Uhr morgens stehe ich vor meiner Haustür. Kreuzberg, in Sichtweite der Mariannenplatz. Ein schöner sonniger Vormittag. Etliche Tage beginnen hier – aber heute bin ich aufgeregt wie ein kleines Kind.
Weil ich nicht weiß, wo ich am Ende lande – und nicht weiß, was dazwischen alles passiert.
Ich fühle mich wie ein Tourist im eigenen Kiez, den Rucksack auf dem Rücken, mit Broten und Wasser – Aufnahmegerät und Mikrofon. Und ich hoffe, dass mich heute kein Bekannter sieht. Dabei, wie ich jetzt zum ersten Mal meinen Kompass zücke – und das vor der eigenen Haustür. Ich schaue mich verstohlen um, komme mir einigermaßen albern vor. Meine Straße, die Muskauer Straße, geht Richtung Südost und ich gehe los. Bis zur nächsten Ecke, noch mal der Blick auf den Kompass, verstohlen.
In den ersten Stunden werde ich beruhigt feststellen: man kann sich mitten in Berlin kaum so sonderbar verhalten, dass man auffällt. Ein junger Mann mit Kompass, der dauernd stehen bleibt, ab und an Selbstgespräche führt – Notizen in mein Aufnahmegerät – das ist hier alles andere als auffällig.
Und ich stelle schnell fest: ich muss es einigermaßen locker nehmen, was die Richtung Osten angeht. Hier und da schramme ich an einer Hauswand vorbei, und immer wieder ist eine kleiner Schlenker nötig, links wieder rechts um die Häuserblocks - wirkliche Hindernisse gibt es kaum. Zufall.
Als ich zwischen Kreuzberg und Friedrichshain zum ersten Mal auf die Spree treffe, tue ich das an der Oberbaumbrücke. Ein Wahrzeichen, das etliche Postkarten ziert, rot, erhaben und alt. Wie das Tor in eine ritterliche Welt. Zu jeder Tageszeit, je nach Sonnenlicht oder auch nicht erstrahlt sie in anderen Schattierungen. Aber immer wunderschön. Ich schlendere zusammen mit vielen Touristen über die Brücke, über uns die Hochbahn, die U1. Und genau auf Höhe unserer Nasen der beißende Geruch der letzten Nacht. Wenn das alles Notdurft ist – dann ist diese Stadt sehr notdürftig. Er weht immer über die Brücke, macht es schwierig, sie in Ruhe zu genießen. Dabei lädt sie im Prinzip zum schlendern und schauen ein – Richtung Osten die Spree hinunter, das Wasser glitzert und in der Sonne stehen in der Ferne drei 30 Meter hohe Metallmänner, durchlöchert, die sich im Wasser begegnen, aufeinandertreffen. Dort, wo Ost und West sich trafen.
Nach der Oberbaumbrücke rechts in die Stralauer Allee. Wieder leicht süd-östlich. Wenig Fußgänger. Wenig verwunderlich. Bei dem Verkehr. Viele Spuren, viel Lärm, Lastwagen.
Halb Zwölf. Zeit für eine kurze Pause, ein Brot, ein Schluck Wasser. Ich sitze auf einem Parkplatz. Habe den S-Bahn Ring – Zufall – durch eine Unterführung passieren können. 90 Minuten unterwegs – noch keine Geschichten auf der Straße – dafür das Gefühl: so könnte ich ewig weiterwandern.
Zwischen Straßen, Baugebiet und Resten einer vor nicht langer Zeit noch vor sich hin wuchernden Berliner Freifläche ist ein kleiner Zirkus eingezäunt. Nach "Menschen, Tiere, Sensationen" sieht er nicht gerade aus. Nur eine handvoll Hüpfburgen liegen schlaff und unförmig in der Sonne, platte Kunststoffhaufen, blau, rot und gelb. Zwei, drei Wohnwagen, eine kleine Bude – und ein großer Laster. Aber Zirkus ist Zirkus denke ich mir – wenn jemand etwas von loslassen und loslaufen versteht dann doch wohl hier?
Hunde statt Tiger! Ein Bernhardiner, etwas, dass wohl mal ein Schäferhund werden wollte und drei, vier kleine schwarze Wirbelwinde begrüßen mich bellend. Immerhin – ein Mann, der nach Wanderschaft aussieht. Dünne schwarze Haare umrahmen sein Gesicht. Stoppelbart. So ein Gesicht, bei dem man sich nicht traut zu raten: er könnte 35 sein oder 55. Etwas scheu blinzeln seine Augen in die Sonne.
"Darf ich Sie mal ganz kurz was fragen? / Im Moment habe ich gar keine Zeit. / Keine Zeit? / Überhaupt keine! / Ihr baut jetzt hier gerade auf? / Nee, nee – wir haben Hupfburgen. Wir sind schon 14 Tage hier. Nicht richtig Zirkus sondern… / Hüpfburgen für Kinder. / Und Sie sind so richtig unterwegs immer, 14 Tage hier, dann wo anders… / Genau! So ist das. / Hat man da nen Ziel? / Na ja… Muss weitergehen, ne? / Muss weitergehen. Aber man plant nicht viel, oder… / Nein! Das stimmt. Bis dann! Ich hab gar keine Zeit!"
Nur Köter, keine Kinder, also Kunden. Der Mann hätte doch alle Zeit der Welt für ein Gespräch über die Planlosigkeit, das Wandern. Aber er will nicht reden, will weg – braucht das gar nicht zu sagen, man sieht es ihm an. Ich lasse ihn – will ja loslassen heute. Schade eigentlich…
Ein Blick auf den Kompass, Osten ist ungefähr dort, mitten durch die schöne neue Welt der Rummelsburger Bucht.
Straßen, die noch keine Geschichte haben, kaum Geschichten erzählen können. Neu und am Zeichenbrett entstanden. Ein Schild weist nach rechts, wirbt für frische Wohnungen. Schön gelegen und wirklich schön – aber auch unwirklich und langweilig. Wenn man hier entlang schlendert, fühlt es sich nicht wie Großstadt an, sondern wie eine Reihenhaussiedlung auf der grünen Wiese. Davon werde ich auch noch einige sehen heute.
Und dann stehe ich nicht nur neben dem Wasser – sondern davor. Vorm Rummelsburger See. Ins Aus manövriert. Hier komme ich nicht weiter. Es ist mittags, 12.30 Uhr. Zweieinhalb Stunden unterwegs und nicht wirklich weit gekommen. Obwohl es bislang keine größeren Hürden gab. Osten liegt vor mir – aber vor mir liegt jetzt nur Wasser. Hätte ich vorher kurz geplant – auf die Karte geschaut – die Gegend im Kopf durchgegangen – ich hätte mir diesen Umweg gespart. Etwas weiter nord- oder südlich kommt man am Wasser vorbei in die richtige Richtung. Also: zurück. Ich drehe mich um – und beobachte einen älteren Herren beim Angeln. Neben sich ein Behälter mit der Ausrüstung, Haken, Köder. Kein Eimer, keine Fische! Er scheint nicht den Plan zu haben, etwas Fisch nach Hause zu bringen. Auch ihm geht es wohl eher ums Prinzip.
Mit nicht mehr ganz sicheren Bewegungen wirft er die Angel aus. Nicht weit, zwei, drei Meter ins flache Wasser der Bucht. Als ich ihm erzähle, was ich mache, hält er mich für einen Auszubildenden. Ein Lehrling auf der Walz? Nein, man lernt zwar nie aus – aber ist die Idee so albern? Auf der anderen Seite der Bucht sei es auch schön, meint er: Bänke und Sonne. Ich werde ihm zuwinken.
Im Kleingarten
Zäune und regelkonform gestutzter Rasen. Gepflegte Wege zwischen Kleingartenparzellen mit ihren Häuschen, Blumenbeeten, Hollywoodschaukeln. Die Kleingartenanlage Märkische Aue. Friedrichsfelde. Kurz vorm Tierpark. Am Horizont Plattenbauten. Marzahn.
Nicht die erste Kleingartenkolonie auf meinem Weg. Von der Rummelsburger Bucht hierhin bin ich einfach nur gelaufen. Viele Gesichter aber keine Geschichten. Städtische Normalität. Häusermeer und Straßen. Ein junges Pärchen, frisch verliebt in der Sonne, küssend, noch ohne den großen Plan. Supermärkte, die sich füllen. Wochenendeinkauf! Ich laufe und laufe, um Strecke zu machen, voran zu kommen. Irgendwie absurd: Die Planlosigkeit schafft einen Zwang, setzt mich unter Druck: Immer weiter! Die Luft ist besser als im Büro, der Himmel wirklich zu sehen. Ich möchte das gegen keine Konferenz der Welt tauschen – obwohl es bislang nur unwesentlich spannender ist.
Die Kleingartenanlage "Paradies" im Osten von Berlin
Die Kleingartenanlage "Paradies" im Osten von Berlin © Deutschlandradio - Julius Stucke
Und jetzt also: Kleingarten. Wie ein Büro nur draußen, eine Freiluftbehörde. An einem sonnigen Freitagnachmittag, 15.00 Uhr, ist hier überraschend wenig los. Macht ab eins doch nicht jeder seins, oder sind sie alle im Gartencenter? Ein älterer Herr ist da, beäugt mich misstrauisch aus sicherer Distanz, als ich vor seinem Zaun länger stehenbleibe, etwas Wasser trinke und überlege, wie es weiter geht. Ich müsste durch seinen Garten Richtung Osten. Und obwohl er das nicht weiß, verschwindet er sobald ich dazu ansetze ihn anzusprechen. Also – einen kleinen rechts-links Schlenker. Anderer Garten – dieselbe Situation. Ich müsste da durch! Eine Frau kniet vor ihrem Beet und zupft Unkraut aus der Erde.
"Entschuldigung! Darf ich Sie mal kurz bei der Arbeit stören? Ich laufe immer Richtung Osten – und das wäre ja jetzt quasi da…"
Das scheint ihr nicht ganz geheuer. Warum will er bloß Richtung Osten – und dann noch durch unseren Garten. Sie ruft ihren Mann – der legt die Harke beiseite und kommt in seiner blauen Arbeitshose zum Tor. Das Gesicht von der Gartenarbeit gebräunt – zuerst Unverständnis, dann blitzen seine Augen freundlich, als ich ihm mein vages "Ziel2 erläutere.
"Mein Kompass sagt, Osten ist so da… / Aber Sie wollen nicht die Allee lang, sondern ein bisschen durcch die Taiga? / Genau! Der Gedanke war einfach, soweit es geht, Richtung Osten. Geht natürlich nicht immer. Stehen ja immer Häuser im Weg und so – oder jetzt halt: Ihr Garten. / Ja, ich würde Sie gerne durchlassen, aber geht nicht. Da hinten ist nen Zaun, da ist die U-Bahn-Reparaturwerkstatt von Friedrichsfelde. / Die finden das sicher nicht so witzig… / Nee, gloob ich nicht. Also, läufts Du jetzt hier runter…bis zu dem Ausgang. Dann links, weil: ist ja Deine Richtung. Und dann hältst du Dich, warte mal, links, links, na immer… dann kommst de da an diese Neubauten da vorne und kurz dahinter ist dieser große, na nicht groß, kleene Tierparkcenter, nennt sich das. Auf der anderen Seite ist der Tierpark. Wat is heute, Freitag, nee is keen Markt. Aber ist ungefähr die Richtung. Auch Richtung Karlshorst geht das da. Viel Spaß! / Schönen Tag Ihnen noch. / Ja, gleichfalls… und schönet Wetter vor allen Dingen."
Tierpark und Bahnfahrt und Ankunft im "Unbekannten"
Etwas später stehe ich vor einem der Eingänge zum Tierpark. Hinter mir vier Spuren und reger Autoverkehr. Vor mir – hinter einer Mauer – tierische Idylle. Ich setze mich. Zeit für eine Pause. Das letzte Brot. Fünfeinhalb Stunden Asphalt stecken mir in den Beinen, halb vier am Nachmittag, es ist warm und ich werde zum ersten Mal müde. Ein Luxusproblem, wenn ich an Inge denke. Inge lebt jenseits der Mauer. Eine Giraffendame – die hier anstelle der Weite der Savanne, anstelle fast grenzenloser Freiheit enge Grenzen gesteckt bekommt. Die sicher gerne mehr laufen würde. Wenn auch nicht unbedingt durch den Berliner Stadtverkehr.
Nach loslassen, nach Freiheit fühlt es sich gerade nicht an. Aber ich habe viel hinter mir gelassen, zu Hause wirkt weiter weg, als es mit Bus, Bahn oder Auto wäre. Aber nun ist der Tierpark eine wirkliche Hürde Richtung Osten.
Familien mit kleinen Kindern im Kartenverkaufsraum. Sie lassen sich fotografieren, füllen Formulare aus, holen sich ihre Jahreskarten. Die Frau am Schalter weiß nicht, ob Sie in mein Aufnahmegerät sprechen darf. Aber sie weiß: auf der anderen Seite des Parks komme ich nicht weiter. Nix zu machen. Mauern. Bevor ich außen herum laufe entscheide ich mich: zu tricksen.
Ich nehme die Treppen herunter zur U-Bahn Linie 5. Wer planlos läuft, darf auch mal fahren. Eine Station weiter. Biesdorf Süd steige ich aus.
Ein Blick auf den Kompass – von hier kann ich weiter. Und die Müdigkeit weicht einem befreienden Gefühl. Ich laufe zum ersten Mal durch eine Gegend, die ich nicht kenne. Das ist nicht mehr mein Berlin. Randlagenidylle. Quer durch Biesdorf. Es folgt viel Langeweile. Einfamilienhäuser und ein schönes Stück Grün, die Schmetterlingswiesen. Aber vielmehr als Schmetterlinge bekomme ich auch nicht vors Mikrofon. Die wenigen, die ich treffe und anspreche – sie wollen nicht sprechen, nicht fürs Radio. Ich laufe und schaue, halte oft inne, laufe langsam, die Zeit fließt dahin. Noch mal drei, vier Kilometer.
Erschöpfung und eine aufbauende Begegnung
Ich kann nicht mehr! Die Füße auch nicht. Es ist 17.45 Uhr. Erschöpft lasse ich mich auf einer winzigen Brücke nieder. Fußgänger und Radfahrer können hier über die Wuhle gehen und fahren. Zwischen Biesdorf und Kaulsdorf. Ich sitze auf einem Stein und bemerke, was ich vergessen habe: Sonnenschutz! Die Stirn glüht. Grillgeruch – mein Magen knurrt. Viel mehr, als die körperliche Erschöpfung, spüre ich eine gewisse Enttäuschung. Der Tag ist schon so lang, ich bin weit gekommen, aber habe ich viel erlebt? Liegen die Geschichten auf der Straße? Mag sein – aber an vielen Ecken verstecken sie sich ziemlich gut. Oder wollen nicht entdeckt werden. Ich trinke den letzten Rest aus meiner Wasserflasche. Habe an dieser Stelle keine Lust, weiterzulaufen. Möchte mich am liebsten in einen Bus setzen, der mich direkt nach Hause fährt, oder gleich vor Ort einschlafen. Ich war nie religiös, aber in diesem Moment schickt mir der Himmel – oder der Zufall – Herrn Bär und Frau Schlichting.
Autor Julius Stucke macht Rast zwischen Berlin Biesdorf und Kaulsdorf.
Autor Julius Stucke macht Rast zwischen Berlin Biesdorf und Kaulsdorf.© Deutschlandradio - Julius Stucke
Langsam kommen Sie auf mich und die Brücke zu. Kommen daher, wo ich auch herkomme. Jenseits der 70 sind sie – nicht Arm in Arm aber doch nah beieinander. Kein altes Ehepaar sondern "Lebenspartner" wie sie mir später sagen. Er in hellblauem Polohemd, ihres ist gelb. Sie trägt eine Einkaufstasche – er Hörgerät und Hut. Darunter ein verschmitztes Grinsen. – So schon, aber erst recht, als ich von meinem Tag erzähle und frage, ob wir eine Weile zusammen weiterwandern wollen. Schließlich haben wir dieselbe Richtung – und eine gemeinsame gesunde Leidenschaft: laufen.
"Ja, wir wollen einigermaßen gesund bleiben und die Rentenkasse ordentlich schädigen. / Erzähl doch nicht so nen Käse! / Wieso? Eingezahlt ham wa jenuch. / Aber von der Rente mit 63 haben Sie jetzt auch nichts mehr? / Ich bin mit 63 in Rente gegangen… / Darf ich fragen, wann das war? / Ohoho! / Wie ist das bei Ihnen: machen Sie viele Pläne? / Nee! Wissen Sie, wir haben einen schönen Garten, wir bauen noch unser Gemüse selber an und joo… was wollen wir mehr? Den ganzen Tag fast draußen. Spazieren gehen. Machen noch Sport, gehen auch noch zum Seniorentanzen. / Was tanzen Sie da? / Alles was kommt! / Aber das klingt doch schon relativ voll geplant. Tanzen, Garten, Gemüse. / Ja, ja. Freitags gehen wir zum Bowling, jede Woche. / Und zwischendrin nen paarmal beim Doktor. / Das muss auch mal sein. / Trotz des Laufens? / Ja, ja. / Wenn man ein gewisses Alter hat, dann tut es mal da und mal da weh… / Ich bin immer froh, wenn ich nicht gehen brauch. / Was beschäftigt Sie, worüber denken Sie am meisten nach? / Wir haben uns das Denken abgewöhnt! / Nee! Das kannste nicht sagen. Manchmal denken wir… fürn nächsten Tag, was machen wir, oder was machen wir abends. Manchmal spielen wir Karten mit noch zwei Damen. Irgendwas gibt es immer. / Sorgenfrei? / Nee, wir machen uns keine Sorgen ehrlich gesagt… / Wir leben im Moment! / Ja, wir leben! Wir haben lange genug gearbeitet. Jetzt kann man auch leben. / Und unser Spaziergang ist hier… / …geht hier leider zu Ende."
Kaulsdorfer Seen und Chuck Norris
Vielen Dank Ihr beiden – geht mir mehrfach durch den Kopf, als ich ihnen hinterher blicke. Dann blicke ich nach vorn, Osten liegt dort, ich stecke den Kompass in die Hosentasche, halte ihn kurz fest. Drücke ihn, wie einen Freund. Den einzigen gerade. Was passiert, wenn man ohne Plan losläuft? Erst mal wenig. Und dann doch einiges, auch ohne Ereignisse, in einem drin. Eine befreiende Ruhe, kein Grübeln, kein Nachdenken, höchstens ein Fragezeichen: wie geht es weiter. Und doch halte ich immer Ausschau, mache Notizen, nehme Geräusche auf. Ich will es mir nicht recht eingestehen aber: ich schaffe mir neue Zwänge.
Ich schlage einen kleinen Bogen um ein paar Sportplätze, die letzten Häuser, dann Grün. Und der Kaulsdorfer Baggersee. Langsam steht die Sonne etwas tiefer, ich kann meinem Schatten hinterherlaufen. Halb sieben. Wieder Kleingärten, Zeit, Rasen zu mähen, keine Zeit zu reden. Ein Pärchen mit Kinderwagen kommt mir entgegen – ich überlege kurz, aber: man muss auch Nein sagen können. "Odin statt Jesus“ steht auf dem schwarzen T-Shirt, das sich über seinen massigen Leib spannt. Und ihr Blick fragt: wer ist Schuld an diesem Leben? "Odin statt Jesus“ – Rechtsextreme stehen auf diese Sprüche. Ich hoffe, wenn das Kind seinem Kinderwagen entwachsen ist, wird es nicht gleich in die elterliche Welt hineinwachsen. Ich drehe lieber ab und steuere den Baggersee an, zwischen Wiesen mit hohem, wildem Gras.
Der Horizont ziemlich leer. Und bevor ich den Badenden auf den Leib rücken kann, stolpere ich über ein Grüppchen auf dem Trampelpfad. Ein schlanker, ruhiger Mittfünfziger, eine Frau mit blonden Haaren zum Zopf. Ein Lachen in den Augen und permanent zwei auf den Lippen. Und – Chuck Norris. Für mich ist er das. Braungebrannt in ausgeblichener Tarnkleidung. Grauer Schnauzbart und eine Brille mit getönten Gläsern. Den Hund an der einen Seite, sein Fahrrad an der anderen. Er wird mich an die Chuck Norris Witze erinnern. Chuck Norris braucht keinen Kompass, weil sich die Himmelsrichtungen nach ihm richten.
"Sie wollen jetzt hier… / Ja, ich sach Ihnen auch warum. Ich laufe heute einfach Richtung Osten… / Osten! / Also, ich habe mir gedacht, ich plane mal nicht, man plant ja sonst immer so viel, guck nicht auf die Karte sondern nehme nur nen Kompass mit. Wissen Sie wie schwer das war einen Kompass zu kaufen? / Um Gottes Willen! / / Ja, das kann ich mir vorstellen, die sind schon aus der Mode. / Haben mich alle angekuckt: Kompass? Nee. / Na, die ham doch alle Abitur und Studium, die müssen doch wissen, wo Osten und Westen ist. Da brauchst doch keen Kompass mehr. Du weeßt ganz jenau, dass im Osten die Sonne aufgeht, im Westen geht se unter. Und da kann man die ganzen Abteilungen zwischendrin einteilen sogar! / Ja, da ist richtig, aber das fällt in der Stadt gar nicht so leicht… / Mein Gott! Also Osten und Westen gibt’s inne Stadt och. Ich meine, da werden ja nicht Wolkenkratzer sein, die 500 Meter hoch sind. Die Sonne steht ja immer ziemlich hoch. Und Osten und Westen wird man da schon mitkriegen. Selbst aufm Potsdamer Platz würde ich Ihnen sagen, wo Osten und Westen ist. Windrichtungen! All sowat, da braucht man kein Abitur haben. / Wo kommt der Wind her gerade, Osten, oder? / Nee, der kommt aus Nord, leicht Nord. / Machen Sie sich also selten Pläne? Kann ich das daraus schließen? / Ah, pfff, öh, Pläne, glauben Sie, ick quassel hier irgend nen Zeuch, oder was? Nachher Abendschau, guck mal, hat der nen angetrunkenen Menschen am See getroffen, der hat irgend nen Müll erzählt‘. / Das ist der Vorteil am Radio, man sieht sie ja nicht. Osten ist da, oder? Wo komme ich da hin? / Osten ist der nächste See. / Muss ich schwimmen? / Nicht schwimmen, Weg lang laufen, hier wo die Bäume stehen kurz rum, dann geradeaus laufen…"
Ja, er hat den Plan!
Umkehr am Stadtrand – ein Gefühl der Freiheit und ein Plan, der Scheitert. Das Ende kommt plötzlich und unspektakulär. Nach weiteren drei Kilometern. Straßen im Grünen – Einfamilienhäuser auf großen baumbestandenen Grundstücken und dann: ein kleines Waldstück. Ich stehe vor der Friedhofstraße. Hier also liegt der Hund begraben. Auf dem gelben Ortsausgangsschild: Berlin, durchgestrichen. Die Stadt endet hier – danach kommt: nichts. Zumindest steht nichts auf dem zweiten Schild, das den nächsten Ort anzeigen sollte. Es ist 19.00 Uhr, vor mehr als neun Stunden bin ich in Kreuzberg aufgebrochen. Ich hatte kein Ziel, aber der Stadtrand ist doch ein guter Punkt, um umzukehren. Die Planlosigkeit zu beenden.
Berlin Ortsausgangsschild
Das war´s. Am Stadtrand von Berlin ist die Wanderung Richtung Osten für heute beendet. © Deutschlandradio - Julius Stucke
Diesmal bin ich etwas beschämt, als ich den Kompass endgültig wegpacke, ihn gegen die Karte tausche. Aber hier ist ja niemand außer mir, den Vögeln und einem Fuchs, der im Wald verschwindet. Ich ziehe eine Linie von meinem Ausgangspunkt zum Standort und stelle überrascht fest: es ist eine fast gerade Linie Richtung Osten. Die Schlenker, Umwege, kleinen Tricks – die Details – verrät sie nicht.
Zeit für einen Plan. 20 Minuten, anderthalb Kilometer Richtung Norden bringen mich durch den Wald an die Bundesstraße 1. Und die führt mich westlich zurück in die Stadt. Ich will per Anhalter fahren. Nicht laufen. Auf den letzten Metern lasse ich wirklich los. Den Rucksack spüre ich nicht mehr, den Hunger habe ich vergessen. Ein Gefühl der Freiheit – fast ein bisschen spirituell. Wie in Trance aber das liegt wohl auch an den Kilometern, der Sonne, einem ganzen Tag auf den Füßen – und zu wenig Proviant.
Jetzt fühle ich mich frei, weil ich das Aufnahmegerät und das Notizbuch beiseite gepackt habe, nicht mehr insgeheim suche nach irgendetwas. Selbst ohne Ziel war ich heute nie ziellos. Ganz der Stadtmensch. Immer verplant, etwas getrieben, bloß nicht zu lange an einem Ort verharren. Gar nicht so leicht, sich wirklich treiben zu lassen.
Daumen raus und per Anhalter zurück Richtung Westen. Einer wird mich doch mitnehmen. Oder etwa nicht? Der erste Plan an diesem Tag: Scheitert. Wie schön!