Engagierter Publizist und Christ

13.08.2008
Walter Jens ist als Romancier und Essayist bekannt geworden, vor allem aber als brillanter Redner. Von 1963 bis 1988 hatte er den ersten Lehrstuhl für Rhetorik an der Universität Tübingen inne. Der Tübinger Literaturwissenschaftler Karl-Josef Kuschel porträtiert Jens als einen streitbaren, aus christlichem Ethos handelnden Demokraten.
Walter Jens: "Wir wollten unseren Worten ein bisschen dramatisch Nachdruck verleihen, und deshalb sind wir an einem verregneten Sonntagnachmittag mit unserer Tübinger Friedensgruppe heraufgezogen nach Mutlangen. Und dann passierte es. Wir wurden, wie es so schön heißt, 'vorläufig festgenommen'."

Walter Jens im Jahre 1983. Der Professor hatte zusammen mit Günter Grass und Heinrich Böll an einer Sitzblockade im schwäbischen Mutlangen teilgenommen. Protest gegen die Stationierung der ersten Pershing II auf deutschem Boden. - Jens wurde rechtskräftig verurteilt. Auf Bewährung. Vorher hatte er sich mit dem Amtsrichter angelegt. Denn der meinte, Jens' Protest sei eine - so wörtlich - "verwerfliche Handlung" gewesen.

Walter Jens: "'Verwerflich' ist Ausdruck absoluter moralischer Abqualifizierung! Und ich finde es ungeheuerlich, dass Menschen, die für den Frieden demonstrieren, 'verwerflich' genannt werden."
Des Rhetorikprofessors' Polemik ward geliebt und gehasst, je nach politischer Parteiung. Jens ist das nicht unrecht gewesen, im Gegenteil; man hatte immer den Eindruck, der rauft sich gern.

"Dabei haben seine Kritiker oft zu wenig bemerkt oder bemerken wollen, von welch moralisch-religiösen Grundlagen her das politische Engagement erfolgte."

Karl-Josef Kuschel. Walter Jens ist Christ. Im Allgemeinen. Und im Besonderen ist er Lutheraner. Das heißt, von ganzem Herzen Protestant.

"Protestant zu sein. Das bringt im wahrsten Sinne des Wortes die ethische und politische Identität dieses Literaten auf den Punkt. Katheder und Kanzel sind ihm Orte seines öffentlichen Eingreifens."

- stellt der Autor fest und liefert mit seinem Buch eine umfassende Einführung in das literarische Werk des Walter Jens. Der hat über Luthers Tischreden geschrieben und über Heines "Wintermärchen", aber auch über "Chirurgie im Spiegel der Literatur". Und "Über die Freude. Schiller und Beethoven". Ein Text, den Kuschel in diesem Buch erstmals veröffentlicht.

Nicht zu vergessen: Walter Jens hat Teile der Bibel neu übersetzt. Hier liest er selbst aus seiner Übertragung des Matthäus-Evangeliums.

"Traurigkeit hatte Jesus ergriffen, und er war in großer Angst. 'Meine Seele ist betrübt', sagte er, 'und das Herz will mir brechen.' Er ging ein wenig weiter, fiel nieder und betete: 'Mein Vater, wenn es möglich ist, lass' den Becher an mir vorbeigehen. Doch nicht wie ich, sondern wie Du willst, soll es geschehen'."

"Ein Kardinal-Text, um den sich in Zukunft theologisch wie politisch alles drehen wird."

Walter Jens: "Wir sprechen zu häufig von dem HERRN in der Glorie, und zu wenig von dem Angefochtenen, der wie wir alle, große Angst gehabt hat. Ein Jude, der einen gelben Fleck getragen hätte, der in Auschwitz auf der Seite der Gefolterten dabei gewesen wäre."

Christ sein - für Walter Jens heißt das in erster Linie, sich auf die Seite der Mühseligen, Beladenen, Verfolgten zu schlagen. Wie im Jahr 1980. Da bekundet er Solidarität mit Hans Küng, dem Kollegen aus der Fakultät für katholische Theologie in Tübingen, als dem auf päpstliche Anordnung die Lehrbefähigung für katholische Theologie entzogen wird. Oder 1990: Da versteckt Jens amerikanische Soldaten in seinem Haus. Deserteure, die vom Golfkrieg genug haben.

"In Jahrzehnten, wo deutsche Intellektuelle sich mehrheitlich von Religion distanziert haben, verkörpert Jens das ungewöhnliche Zugleich von literarischer Brillanz und politischer Verantwortung in jesuanischem Geist."

Befindet der Autor eines Buches, das man "gelungen" nennen könnte, gäbe es nicht eine offene Frage. Warum verliert Kuschel kein Wort über ein Faktum, dass seit rund fünf Jahren bekannt ist? Walter Jens ist im Alter von 19 Jahren Mitglied der NSDAP geworden.

Tilman Jens: "Mein Vater hat den Beginn seiner später höchst aufrechten Biographie ein wenig retuschiert. Mag sein, das war feige. Er wollte nach oben. Also unter den Tisch mit der dämlichen Nazi-Geschichte."

Schreibt Tilman Jens, der Sohn, in einem Artikel der "Zeit" vom März dieses Jahres. Selbst seinen Kindern hatte Jens "die dämliche Nazigeschichte" verschwiegen.

Feigheit ist eine höchst menschliche Schwäche, geboren aus Angst. Der Mann war eben kein Heiliger, sondern ein Mensch. Die Nachricht vom Verschweigen hat "das Denkmal" Walter Jens beschädigt, keine Frage. Aber sein Lebenswerk bleibt, und Karl-Josef Kuschel hat recht:

"Unter seinem Stil - und Sprachniveau sollte keine Theologie getrieben werden, die den Anspruch erhebt, Menschen unserer Zeit ergreifen zu wollen."

Rezensiert von Susanne Mack

Karl-Josef Kuschel: Walter Jens. Literat und Protestant
Attempto Verlag Tübingen 2008.
247 Seiten. 24,90 EUR