Energiewende

Revision in Grafenrheinfeld

Verkehrsschild bei Grafenrheinfeld weist den Weg zum "Kernkraftwerk Grafenrheinfeld".
Verkehrsschild weist den Weg zum "Kernkraftwerk Grafenrheinfeld". © dpa / Daniel Karmann
Von Philip Artelt · 14.08.2014
Was für die Umwelt gut sein mag, kann auf anderen Gebieten auch negative Folgen haben, so zum Beispiel im unterfränkischen Grafenrheinfeld. Dank eines Atomkraftwerks sprudelten dort seit 1981 die Steuereinnahmen. Nun wird das AKW dichtgemacht.
Das Tor bleibt zu. Als Journalist kommt man derzeit kaum mehr in das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld hinein. Der Reaktor, vier Kilometer von Schweinfurt entfernt, soll nächstes Jahr für immer abgeschaltet werden. Die Öffentlichkeitsarbeit hat man hier vorsorglich schon eingestellt, jetzt, wo man die Atomkraft eh nicht mehr als Heilsbringer vermarkten kann. Anfragen werden nur noch aus der Konzernzentrale beantwortet, Interviews mit den Mitarbeitern vor Ort? Fehlanzeige.
Dabei ist in Grafenrheinfeld noch richtig viel los, ein Jahr vor der Stilllegung des Atomkraftwerks. Der Parkplatz ist voll, auf dem Gelände stehen Campingwagen hinter Stacheldraht, Kameras und Bewegungsmeldern. Arbeiter in Latzhosen und Overalls gehen aus und ein. Es ist die wahrscheinlich letzte große Revision, sowas wie der jährliche TÜV für das Kraftwerk. Jedes Jahr reisen dazu eineinhalbtausend Techniker, Fachleute und Ingenieure ins beschauliche Grafenrheinfeld.
"Also in Grafenrheinfeld ein Zimmer zu kriegen während der Revision ist so gut wie unmöglich, keine Chancen, das geht sechs, acht Wochen vorher los mit der Zimmerbestellerei, und wenn Sie dann nicht rechtzeitig dran sind, dann haben Sie keine Chancen."
Walter Kaspar. Der 60-jährige Maschinenschlosser vermietet vier Zimmer in einem angegrauten Haus an der Hauptstraße. Vor etwa sieben Jahren hat er die Wohnung im ersten Stock umgebaut. Seitdem übernachten hier jedes Jahr Arbeiter, die zur Revision im Kraftwerk anreisen. 15 Euro kostet die Nacht, dabei könnte Kaspar während der Revisionen ein kleines Vermögen verdienen.
"Gerüchte gehen rum, dass der eine oder andere die Preise anzieht und dann extrem viel verlangt. Man kriegt es nur immer mit, wenn Monteure kommen und fragen nach Zimmern, und da sind sie dann schon glücklich, wenn sie in so eine Wohnung hineinkommen, die sie bei uns da haben."
Kraftwerks-Mitarbeiter führen am 25.04.2012 im Reaktorgebäude des AKW Grafenrheinfeld (Unterfranken) während der jährlichen Revision neben dem geöffneten und gefluteten Reaktorbecken Arbeiten durch.
Geöffnetes und geflutetes Reaktorbecken im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld© dpa / David Ebener

Situation in Beverungen nach der Stilllegung des AKW 1994

Sprecherin: „Beverungen, Nordrhein-Westfalen. Kernkraftwerk stillgelegt 1994. Hotels und Ferienwohnungen geschlossen für immer."

Mann: „Meistens waren die Pensionen ausgebucht und die privaten Vermieter. Die haben am meisten darunter zu leiden gehabt, dass das Kraftwerk geschlossen wurde. Da merkte man das auch in den Hotels, die zum Teil zugemacht haben, Geschäfte, die leerstanden, man sah, dass früher mehr Geld vorhanden war im Ort, wie es jetzt der Fall ist."

Das Atomkraftwerk im unterfränkischen Grafenrheinfeld wird 1981 „kritisch" - so heißt in der Fachsprache das „Einschalten" des Reaktors. Menschen ziehen in den kleinen Ort am Main. Hunderte finden Arbeit im Kraftwerk, unter ihnen auch Walter Kaspars Familie.
Walter Kaspar selbst hat durch die Zimmervermietung von der Atomkraft profitiert. Eigentlich hätte er allen Grund, sich Sorgen zu machen, jetzt, wo auch hier das Kraftwerk abgeschaltet wird.
„Überhaupt nicht. Überhaupt nicht. Ich hab mir vorher keine Gedanken gemacht über das Kernkraftwerk, wie es gelaufen ist, das war ein Energieerzeuger für mich, fertig aus, und ich mache mir auch keinen Kopf darüber, wenn das Kernkraftwerk mal weg ist. Weil es geht immer wieder weiter und es wird auch da weitergehen. Das ist überhaupt kein Problem. Und der größte Teil der Bevölkerung sieht das bei uns genauso."
Herr Kaspar macht sich keine Sorgen, dass ihm bald die Gäste wegbleiben. Stattdessen betont er immer wieder, wie die Steuermillionen aus dem Atomkraftwerk das Dorf verändert haben.
„Tja. Wenn Sie zum Ort reinfahren, fängt's an. Schauen Sie die Straßen an, die Häuser, das ganze Umfeld von Grafenrheinfeld, das passt einfach alles zusammen..."
Kleine Ortsführung gefällig?
„Schau'mer ihn mal an."
Im Auto geht es vorbei an geleckt sauberen Gehsteigen, akkurat verlegtem Kopfsteinpflaster, futuristisch geschwungenen Fahrradständern, Marienstatuen und alten Bauernhöfen, die in neuem Rot, gelb und Violett erstrahlen. Das Rathaus, rotes Fachwerk und überbordende Blumenkästen – zwei Apotheken, Gasthäuser, Eisdiele, ein Hotel – und ein unscheinbarer Steinbrunnen. Darauf die Aufschrift: 10 Jahre Kernkraftwerk Grafenrheinfeld.
„Der Kirchplatz. Umrahmt von den alten historischen Gebäuden und der Bibliothek. Was natürlich auch auf die gute Finanzkraft der Gemeinde zurückzuführen ist, dieses Ensemble, so wie es gestaltet wurde, es ist also schon ansehnlich, wenn man die gemeindlichen Gebäude sieht, dieses ehemalige Lehrerwohnhaus wurde vor kurzem saniert, Bibliothek, vor der wir gerade stehen, Unterhalt trägt die Gemeinde Grafenrheinfeld. 20, 25 Jahre ist das jetzt her. Also die Anfangszeit des Kernkraftwerks ist das damals saniert worden, dieser Platz."
„Dorf des Rokoko" wird Grafenrheinfeld auch genannt – und tatsächlich, das Zentrum des Örtchens wirkt eher wie eine kleine Altstadt, wie ein Bamberg oder Bayreuth im Miniaturformat. Alles schön hergerichtet – mit den Millionen aus dem Kraftwerk.
„Ich bin Rafelder. Grafenrheinfelder im Volksmund. Also das ist ganz klar, wäre ich kein Rafelder, wenn ich nicht stolz drauf wäre. Das ist... Es ist schon viel gemacht worden in den letzten Jahrzehnten..."

Hinter Stacheldraht steigt am 21.03.2014 Wasserdampf aus den beiden Kühltürmen des Atomkraftwerks Grafenrheinfeld (Bayern) auf.
Die beiden Kühltürme des Atomkraftwerks Grafenrheinfeld© dpa / David Ebener

Situation in Beverungen nach der Stilllegung des AKW 1994

Sprecherin: "Beverungen, Nordrhein-Westfalen. Kernkraftwerk stillgelegt 1994. Kraftwerkssiedlung. Otto-Hahn-Straße, Max-Planck-Straße. Wohnungen verlassen."

Mann: "Eon hat seinerzeit auch dafür gesorgt, für die vielen Mitarbeiter, die in der Region gar nicht da waren, musste Wohnraum geschaffen werden. Und das hat natürlich auch das erste Problem beim Rückbau gegeben. Die Leute sind gegangen, die Siedlung ist dann auch umgebrochen, Wohnungen standen teilweise leer, dann sind Konsortien gekommen, haben die Wohnungen aufgekauft und man hat versucht, die unterpreisig irgendwo anzubieten bei Leuten, die die Region gar nicht kannten, und sie kamen dann hier in eine sehr ländliche Region und haben sich auch mit ihrer Wohnsituation nie lange auseinandergesetzt, was natürlich dazu führt, dass man sich nicht integrieren kann, nicht integrieren will, das bringt dann auch Spannungen im sozialen Gefüge."

Grafenrheinfeld. Walter Kaspar will ein großes Gelände am Ortsrand zeigen. Von den umzäunten Tennisplätzen hört man dumpf die Bälle auf die Schläger prallen, auf einer Sandfläche drehen ein paar Reiter ihre Kreise. Dahinter verputzt ein Handwerker ein flaches Gebäude.
„Hier stehen wir jetzt vor der großen Reithalle und Stallungsanlagen vom Reitverein, die mit großzügigster Unterstützung der Gemeinde Grafenrheinfeld gebaut wurden, also es ist schon ein enormes Gebäude, was auch für überregionale Reitturniere ausgelegt ist, also schon eine Dimension, die eigentlich eine Nummer zu groß ist. Aber die Gemeinde musste dann mit einsteigen bei der Finanzierung, weil man sich von Seiten des Vereins etwas übernommen hat, was natürlich die Negativseite von den großzügigen Bezuschussungen der Gemeinde ist. Man wird leicht übermütig, man schießt übers Ziel hinaus und dann muss der eine oder andere einsteigen, um das am Leben zu halten."
Hier offenbart sich die ganze Dekadenz der vergangenen Jahrzehnte. In Grafenrheinfeld haben sich die Sportvereine Denkmäler gesetzt: Millionen teure Bauwerke, zu 45 Prozent gesponsert von der Gemeinde. So gesellt sich zum Reitverein heute eine Dreifelder-Sporthalle und das neue Vereinsheim, ein vierstöckiger, weiß-orangener Koloss mit riesigem Solardach.
„Das Geld war ja da. Es hat ja keine Rolle gespielt. Man hat ja krampfhaft... wenn Sie am Ende des Jahres eine Mitteilung bekommen, dass Sie eine Steuernachzahlung von zehn Millionen Euro kriegen, wie würden Sie da reagieren? Es ist einfach so. Es ist ein Wahnsinn gewesen, aber das Geld ist gelaufen damals."
Nur ein paar Schritte weiter steht die Kulturhalle. Eine Veranstaltungshalle, von der manche Kleinstadt nur träumen kann. Ein heller, flacher Bau mit schlichten Säulen, hinter denen sich eine breite Glasfassade erstreckt. Hier können 500 Gäste die gute Akustik genießen – sogar auf der Toilette übertragen Lautsprecher, was im Saal passiert.
Die Jugend feiert hier ihren Tanzball, der örtliche Musikverein spielt auf, aber in der Kulturhalle treten auch die ganz Großen auf die Bühne: Michael Mittermeier, Urban Priol, Senta Berger.
Das viele Geld, die teuren Bauwerke, der schöne Ort, und dass die Grafenrheinfelder dem Atomkraftwerk relativ unbekümmert gegenüberstehen - auch nach Fukushima: Bei den Nachbarn kam das gar nicht gut an. Lieber gestern als heute hätten einige Gemeinden im Umland das Kraftwerk abgeschaltet. Dabei spielte das Risiko eines atomaren Unfalls eine Rolle – aber es gab auch Neid:
„Ja, auf jeden Fall. (lacht) Ich habe jahrelang Musik gespielt, bin viel draußen rumgekommen, und man hat immer schon gehört, die von Grafenrheinfeld haben das Geld. Die Leute vergessen immer wieder: Wir haben Kreisumlage gezahlt. Und die Kreisumlage war ein ganz erheblicher Brocken, der an den Kreis geflossen ist, wo alle umliegenden Gemeinden davon profitiert haben. Und wenn man dann solche Ausdrücke hört, die, die den Rahm abgeschöpft haben, sollen jetzt auch die Verantwortung übernehmen, es ist ein Käse! Das ist nur Neid und Polemik und sonst nichts. Die sollen sich wirklich mal an die Nase fassen und schauen, warum die Kreisumlage so niedrig war bei uns in dem Kreis. Weil die finanzstarken Gemeinden wie Grafenrheinfeld einen erheblichen Teil dazu beigetragen haben. Und da haben andere schwache Gemeinden profitiert davon. Da muss man nicht neidisch sein drauf."
Florian Töpper, Landrat des Landkreises Schweinfurt, in dem Grafenrheinfeld liegt:
„Einige Zahlen hierzu, in den Jahren 1990 bis 2012 hat die Gemeinde Grafenrheinfeld ein Gewerbesteueraufkommen von 144,5 Millionen Euro vereinnahmt, allein 132 Millionen Euro gehen auf das Atomkraftwerk zurück, und allein beim Landkreis Schweinfurt blieben dabei 24,3 Millionen Euro hängen zwischen den Jahren 1992 bis 2014, also doch ein erklecklicher Betrag, von dem letztlich der gesamte Landkreis profitiert hat und der fehlen wird in Zukunft. Das wissen wir."
Ein ganzes Schulzentrum könnte man damit sanieren, rechnet der junge Landrat vor. Viel Geld für einen Landkreis, dessen Steuereinnahmen ansonsten eher unterdurchschnittlich sind. Manche Bürgermeister sagen, ihre Gemeinde lebe jetzt schon von der Hand in den Mund. Aber Töpper betont immer wieder: Der Landkreis kann auch ohne das Kraftwerk:
„Ich will das Problem nicht kleinreden, aber trotzdem, wir sind eine Region, die sich erfreulicherweise über annähernd Vollbeschäftigung und vergleichsweise solide Gemeindefinanzen freuen kann, andererseits, dieses Szenario, dass Grafenrheinfeld als großer Kreisumlagenzahler wegfällt, das war in unserer mittelfristigen Finanzplanung auch immer eingespeist und insofern haben wir uns auch verantwortungsvoll verhalten. Das trägt natürlich jetzt auch zu einer Situation bei, in der wir vergleichsweise zuversichtlich in die Zukunft blicken können."
Nicht nur das Steuergeld aus dem Kraftwerk hat die Region aufgewertet. Handwerksbetriebe, Elektronikfirmen, Maschinenbauer, Verpackungsunternehmen, viele Mittelständler haben vom Kraftwerk profitiert. Einige Firmen, die gutes Geld mit der Atomkraft verdienen, wollen lieber nicht darüber sprechen. Immer wieder heißt es, man habe nur ein paar kleine Aufträge übernommen. Dabei hatten manche Unternehmen sogar dauerhaft Mitarbeiter für das Kraftwerk abgestellt. Umsatzrückgang, fehlende Aufträge, Jobs in Gefahr, wirklich kein Grund zur Sorge?
Zwei Kühltürme des Atomkraftwerks Grafenrheinfeld in Bayern in der Abenddämmerung.
Das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld soll nach dem Willens Eons schon in einem Jahr und zwei Monaten vom Netz gehen.© picture alliance / dpa / David Ebener

Situation in Beverungen nach der Stilllegung des AKW 1994

Sprecherin: „Beverungen. Nordrhein-Westfalen. Kernkraftwerk stillgelegt 1994. Sinkende Bevölkerung, leerstehende Geschäfte."

Mann: „Die Durchschnittseinkommen sind deutlich zurückgegangen. Eon war ein Arbeitgeber, der in der Lage war, seine Leute überdurchschnittlich zu bezahlen. Und das hat natürlich dazu geführt, dass insbesondere der Einzelhandel das zu spüren bekommen hat. Also da ist schon eine Veränderung der Struktur da, früher mehr hochwertige Waren, wir hatten viele Leute hier, die in der Revision mal eben das Parfüm für die Frau am Wochenende, das teure, hier mitgenommen haben, weil sie die ganze Woche hier gearbeitet haben, solche Geschäfte sind natürlich zurückgegangen, haben Umsatzeinbußen, bis sie dann vielleicht auch irgendwann aufgegeben haben."

Grafenrheinfeld, nicht weit von der neuen Kulturhalle: Eine winziger Bäckerladen, liebevoll dekoriert mit einer goldenen Brezel als Türschild, in der Auslage steht eine Holzbank. Hinter der Theke räumt eine gut 90-jährige Frau Backbleche weg. Der Chef, Georg Hartmann, ein stämmiger Mann mit Schnauzbart und von der Arbeit zerschlissenem Poloshirt:
„Ich bin im Kraftwerk seit dem ersten Spatenstich. Es wird nicht viele Firmen geben, die vom ersten Spatenstich drin sind, aber ich bin noch drin."
Es war Mitte der 70er, als der Chef der Baukantine auf der Kraftwerksbaustelle den jungen Bäcker engagierte. Seitdem hat Hartmanns kleine Bäckerei zehntausende Brötchen in das Kernkraftwerk geliefert.
„In der Revisionszeit dann halt mehr geliefert, weil da noch mehr Fremdarbeiter da waren, und wenn das nächstes Jahr abgeschaltet wird, wird das natürlich schon weniger und man hat halt dann weniger Umsatz."
Wie viele Brötchen Hartmann während der Revision liefert, will er nicht sagen:
„Das ist ein wenig ein Geschäftsgeheimnis. (lacht) Das gibt keiner so preis..."
In Hochzeiten waren es aber schon mal 1000 am Tag:
„Wenn einer 100.000 Brötchen am Tag macht, spürt er es nicht. Aber bei unserer Größenordnung merkt man das schon. Wir schaffen da schon Extraschichten."
Keine Angst ums Geschäft
Die Extraschichten kann er seinem vierköpfigen Team in Zukunft sparen. Angst ums Geschäft hat Hartmann aber nicht. Das Geschäft mit dem Kraftwerk, sagt er, ist nur ein nettes Zubrot gewesen. Der Verlust kommt für ihn noch nichtmal überraschend. Durch Umstrukturierungen beim Kraftwerksbetreiber Eon habe er die vergangenen Jahre bereits weniger geliefert, so wie andere Unternehmen auch.
„Früher waren halt Metzger drin und der Grafenrheinfelder Gärtner war drin, und das läuft heute alles über den Großhandel. Betrifft mich nicht, weil ich ja auch altersmäßig schon auf die 60 zugehe und man weiß es nicht, wie es weitergeht."
Sabine Lutz, Bürgermeisterin von Grafenrheinfeld:
„Also ich finde, es hat schon Einfluss. Und mein Paradebeispiel ist halt der Bäcker. Und ob ich heute 500 oder 200 Brötchen verkaufe am Tag, das ist ein Unterschied. Freilich macht das erst am Tag nicht viel aus. Aber über das Jahr, über die Jahre gerechnet sage ich: ist das durchaus eine betriebswirtschaftliche Rechnung wert."
Sabine Lutz ist eine der Wenigen, die warnt. Die dem Ende des Kraftwerks nicht so unbekümmert entgegenblickt. Sie ist es auch, die alles, was in den vergangenen Jahrzehnten gebaut wurde, weiter erhalten und bezahlen muss:
„Es war glaube ich den damaligen Gemeinderäten nicht unbedingt bewusst, was damit für Folgekosten auftreten. Es ist wunderschön, dass wir die Kulturhalle haben, Grafenrheinfeld wird von vielen dadurch anders bewertet als wenn sie nur sagen: Ach, da steht ja ein Kernkraftwerk, weil sich bei uns viel tut, weil wir viele kulturelle Highlights haben, aber ob man damals sich bewusst war, dass wir damit so extensive Kosten schaffen, das weiß ich nicht."
Lutz warnt, aber sie jammert nicht. Noch hat sie auch keinen Grund dazu, denn die Gemeinde hat Rücklagen aus den fetten Jahren. Gerade erst hat die Feuerwehr die allerneuesten Fahrzeuge bekommen, jetzt, solange das noch geht. Und Die Rechnungen für die Kulturhalle unterschreibt die Bürgermeisterin nebenbei, mit schneller Feder. Ewig kann das nicht so weitergehen:
„Wir haben heuer über den Finanzausgleich nochmal einen warmen Regen bekommen mit fünf Millionen, die wir zusätzlich bekommen haben, ist natürlich sehr schön, aber das geht nicht so weiter. Wir müssen also wirklich sehen, dass wir unsere Kosten so weit konsolidieren, dass wir nicht ewig vom Sparbuch leben. Und dann werden die freiwilligen Abgaben gekappt, und das, muss ich ehrlich sagen, müsste dann, was ich nie hoffe, dass es kommt, die Bibliothek drunter leiden, Kulturhalle ist natürlich auch ein großer Kostenfaktor mit 300.000 Euro Miese im Jahr."
Situation in Beverungen nach der Stilllegung des AKW 1994

Sprecherin: „Beverungen. Kraftwerk stillgelegt 1994."

Mann: „Wir haben schon einige schwierige Entscheidungen getroffen. Wir haben uns von allen Kindergärten getrennt. Also das war immer ein sehr wichtiger Punkt bei uns in der Familien- und Sozialpolitik, eigene Kindergärten zu betreiben, und der Rat hat im Zuge der Haushaltsdiskussion gesagt, wir gucken, ob wir nicht einen anderen Träger finden, das ist uns gelungen, der macht die Arbeit auch qualitativ hoffentlich so gut weiter, wie wir sie gemacht haben, aber das sind schon Einschnitte, die dann irgendwo sind. Das Freibad, da haben wir Glück gehabt, auch das Freibad war von Schließungsgedanken betroffen, zumindest es war ein riesiger Sanierungsbedarf, da ist uns das Konjunkturpaket zu Hilfe gekommen, sonst hätten wir vielleicht heute kein Schwimmbad mehr.

In Grafenrheinfeld will Sabine Lutz den sanften Übergang schaffen. Mit den Vereinen verhandelt sie jetzt über Zuschüsse im Bereich von tausend statt hunderttausend Euro. Die Gemeinde hat die Grundsteuer erhöht, um rund 12 Euro pro Einfamilienhaus. Demnächst sind die Abwassergebühren dran:
„Da ist durchaus bei den Bürgern das Bewusstsein da, dass wir sehr gut gelebt haben. Es ist zum Beispiel so, wir hatten sehr sehr günstige Kindergartenbeiträge, wir haben immer noch günstige Beiträge, es war ja teilweise so, dass die 50 Euro für den ganzen Monat bezahlt haben, die Leute, ich war mal bei einer Elternbeiratssitzung dabei, und die haben sich beschwert, dass wir ein bisschen erhöht haben. Und die eine Mutter, die sich eigentlich bitterlichst drüber beschwert hat, hat gesagt: Aber andererseits muss ich sagen, ich schätze das sehr, dass es momentan noch wesentlich billiger ist als in anderen Gemeinden, weil sie kam aus einer anderen Gemeinde und hat da schon das Doppelte von dem erhöhten Beitrag gezahlt. Also das ist diese Diskrepanz, die wir haben bei uns."
Eines liegt Sabine Lutz persönlich am Herzen: die Kirchenorgel. Die ungewöhnlich blanken Pfeifen sind das Schmuckstück der gelben Barockkirche in der Ortsmitte. Die Orgel ist eine echte „Winterhalter". Vor 15 Jahren wurde sie eingeweiht, seitdem organisiert der Verein Musica Sacra hochkarätige Konzerte:
„Es war für mich eigentlich nur sehr logisch, dass wenn so eine tolle Orgel da ist, dass man da entsprechende Künstler auch bringt. Jedes Jahr hat Musica Sacra einen Zuschuss vom Kernkraftwerk bekommen, und war Eon auch ein sehr zuverlässiger Sponsor, der dann im Endeffekt durchaus mit hat möglich machen lassen, dass gewisse internationale Künstler bei uns in der Kirche aufgetreten sind."
Situation in Beverungen nach der Stilllegung des AKW 1994

Sprecherin: „Beverungen, Nordrhein-Westfalen. Kraftwerk stillgelegt 1994. Plötzlich Risse im Reaktorkern. Mitarbeiter versetzt in andere Kraftwerke oder in die Frührente abgeschoben."

Mann: „Es war ne schöne Zeit. Und es kam plötzlich, dass wir auf einmal ausscheiden sollten, weil eben keine Arbeit mehr da war, weil alles rückgebaut werden sollte, es stand dann fest, und dann mussten wir in den traurigen, sauren Apfel beißen und mussten halt gehen."

Das vorzeitige Ende: Auch in Grafenrheinfeld kam es plötzlich. 2010 hatte der Bundestag die Laufzeit noch verlängert, ein Jahr später dann die Katastrophe von Fukushima und der Beschluss: Das Kraftwerk geht 2015 vom Netz.
"Die Leute machen ihre Arbeit wie gewohnt"
Für die Mitarbeiter war das ein Schock. Sie können den Ausstieg nicht auf die leichte Schulter nehmen, wie das manche Grafenrheinfelder tun. Immer wieder hört man, die Stimmung im Kraftwerk sei schlecht, aber darüber soll vor Ort niemand mit uns reden. Einer redet dann doch, zumindest ein bisschen. Franz-Josef Klinger, der Betriebsratsvorsitzende:
„Ja die Leute machen ihre Arbeit wie gewohnt eigentlich, das wundert mich selber ein bisschen, aber es läuft eigentlich... gut, das Ganze."
Klinger ist derjenige, der mit Eon darüber verhandelt, wie es mit den rund 400 Mitarbeitern weitergeht. Wer wird noch für den Rückbau gebraucht? Wer geht in Vorruhestand? Wer muss gehen? Endgültige Ansagen von Eon fehlen noch, weniger als ein Jahr vor dem Abschalttermin. Der Betriebsratschef antwortet schmallippig, kurz angebunden, will nicht zu viel sagen, will keine falschen Hoffnungen wecken:
„Also für unser Eigenpersonal gehe ich mal davon aus, dass es so ein Jahr nach der Stilllegung dazu kommt, dass wir die Belegschaft reduzieren müssen. Ich denke mal, viele, vielleicht die meisten, werden schon die Perspektive haben, hier bleiben zu können... bis der Rückbau beendet ist, weiß ich nicht, aber doch noch längere Zeit, so dass das vielleicht gar nicht so das Thema ist für viele, weil wenn Sie heute weggehen und fangen in Schweinfurt in der Industrie an, wo kriegen Sie da gezeigt, dass Sie da noch fünf oder acht oder zehn Jahre arbeiten können? Sagt Ihnen auch keiner."
Der 28-Jährige Gabriel Schöneich war schon als Kind fasziniert vom Kraftwerk, von dieser Maschine, die die Wolken macht:
„Also Gedanken gemacht haben sich sicherlich viele von den Jüngeren, wie es denn weitergeht, was man macht, schaut man sich schon mal um, wartet man erst mal ab? Den Weg dann wirklich zu gehen oder den Schritt zu wagen, sich umzubewerben und auch im Kernkraftwerk zu kündigen, also so weit ich mich erinnern kann, war ich da einer der ersten oder sogar der erste."
Nach dem Abitur machte er seine Faszination zum Beruf: Im Atomkraftwerk ließ er sich zum Chemielaboranten ausbilden. Dann kam Fukushima.
„Ja, sicherlich folgt da jetzt nach dem Abschalten eine gewisse Nachbetriebsphase und ein Rückbau, und gerade im Bereich Chemie wird man da immer noch Leute brauchen, aber die Frage für mich ist halt immer, wie viel brauche ich da noch im Labor und wer von den zwölf oder 13 Leuten wird dann letzten Endes für die Phase noch gebraucht? Und nachdem für mich eigentlich immer der Wunsch war, hier in der Region zu bleiben, habe ich mich dann relativ schnell entschlossen, mich doch mal umzuschauen, und da merkt man doch ganz schnell, dass die Möglichkeiten hier in der Region für Chemielaboranten ja doch gezählt sind, also es gibt doch nicht all zu viele Möglichkeiten für Chemielaboranten, und aus dem Grund habe ich dann gesagt, ich guck mich schon mal um."
Gabriel Schöneich hatte Glück. Er fand einen neuen Job: auch als Chemielaborant, in der Forschung und Entwicklung eines Baumaterialherstellers.
„Ja ich hab da schon auch mit einem weinenden Auge zurückgedacht an die Zeit, weil ich mir gedacht hab, es hätt so schön sein können. Inzwischen sage ich echt, jetzt auf Dauer gesehen, es war der richtige Weg, und ich fühle mich inzwischen echt wohl, und bin aber nach wie vor von der Technik überzeugt und stehe auch nach wie vor voll dahinter."
Die Zukunft: Für die Bürgermeisterin von Grafenrheinfeld bedeutet das vor allem das kleine Gewerbegebiet im Süden des Ortes. Auf ein paar Firmen setzt sie große Hoffnungen. Darunter ein IT-Unternehmen mit mehreren hundert Mitarbeitern. Derweil muss Sabine Lutz den Bürgern klarmachen, dass sie ab jetzt mehr Eigenverantwortung übernehmen müssen – auch bei den kleinen Dingen:
„Das ist in Grafenrheinfeld so ein geflügeltes Wort: ‚Die Gemee macht's schon.' Ich hab zum Beispiel einen Kollegen in einem Steigerwald-Ort, die haben vor den einzelnen Häusern Pflanzbeete angelegt. Da machen sich die Eigentümer der Häuser gegenseitig Konkurrenz, wer das schönste hat. Bei uns ist es eher so, wenn da ein Rosenstrauch mal ein Meter raushängt, dass dann bei der Gemeinde angerufen wird, da muss fei mal der Bauhof vorbeikommen und muss das machen. Dann habe ich durchaus schon gesagt, Sie können auch mal eine Schere in die Hand nehmen und dürfen das selber wegschneiden."
Das Atomkraftwerk als "ein Stück Heimat"
Und die Grafenrheinfelder Orgel? Für die hat Lutz schon einen neuen Sponsor gefunden: 5.000 Euro spendet die Sparkasse ab jetzt jedes Jahr an Musica Sacra. Damit der Dreieinhalbtausend-Einwohner-Ort ein kleines Zentrum der Hochkultur bleibt.
Fehlen wird das Kraftwerk dennoch einigen: Den Mitarbeitern, aber auch den Bürgern. Kritische Stimmen erntet die Atomkraft im Ort bis heute kaum. Die Grafenrheinfelder haben sich an das Leben mit dem Kraftwerk gewöhnt. Den plötzlichen Atomausstieg stellen einige in Frage. Sie vertrauen der deutschen Technologie, sie vertrauen ihren Verwandten und Freunden, die im Kraftwerk arbeiten. Und sie erinnern sich daran, was das Kraftwerk ihnen Gutes getan hat.
Ja, und manchmal ist das Kraftwerk auch einfach nur da, ganz unpolitisch, in den Herzen der Menschen. Eine junge Frau sagt:
„Also das Kraftwerk ist schon mein Leben lang eigentlich in Grafenrheinfeld und wenn ich jetzt zum Beispiel weiter weg bin, in Würzburg, und und ich fahr nach Hause und ich sehe das Kraftwerk, dann ist das eigentlich so ein Stück Heimat, was man dann sieht, und man weiß, man ist gleich zuhause."
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