Ende des Antiquariates Henschel

Das deutsche Erbe in Buenos Aires verblasst allmählich

Blick über die Dächer von Buenos Aires, Argentinien, aufgenommen bei wolkigem Himmel am Montag
Viele Deutsche sind während des Zweiten Weltkrieges nach Buenos Aires ausgewandert, doch allmählich verwischen sich ihre Spuren © picture alliance / dpa / Arno Burgi
Von Victoria Eglau · 29.12.2015
In Buenos Aires gibt es noch ein letztes Antiquariat mit deutschen Büchern. Hier stehen die Werke von Remarque neben denen von Nazidichtern. Doch immer weniger Argentinier lesen auf Deutsch. Deshalb hat die Witwe des verstorbenen Inhabers eine schwere Entscheidung getroffen.
Calle Reconquista, eine Geschäftsstraße im quirligen Zentrum von Buenos Aires. Im Hausflur der Nummer 533 weist ein diskretes Schild darauf hin, dass sich hier das Antiquariat Henschel befindet.
An die Tür im ersten Stock wird heute nicht mehr allzu oft geklopft. Dahinter verbergen sich 15.000 alte Bücher, die meisten von ihnen in deutscher Sprache.
"Allerlei Themen, zum Beispiel Literatur 19. Jahrhundert, dann gibt's 20. Jahrhundert, Erst- und Frühausgaben, es gibt auch Gesamtausgaben der deutschen Klassiker. Geschichte, europäische Geschichte."
Viviana Steinberg arbeitet seit fast zwanzig Jahren im Antiquariat Henschel. Sie stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie, die auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus nach Argentinien auswanderte. Auch ihr vor drei Jahren verstorbener Chef Edgardo Henschel, Sohn eines jüdisch-protestantischen Ehepaars, war in den 1930er Jahren nach Buenos Aires emigriert, als Sechsjähriger. Henschels Vater Hans hatte in Hamburg ein von seinem Vater gegründetes Antiquariat geleitet, bis dieses von den Nazis enteignet wurde. Als er auswanderte, blieben die meisten Bücher zurück.
"Er hat nur einen kleinen Teil mitgenommen. Und dann wieder hier angefangen, unter den Deutschen aufzukaufen. Nachlässe, Leute die eingewandert sind."
1940 hatte Hans Henschel genügend Bücher zusammen, um in Buenos Aires ein deutsches Antiquariat zu eröffnen: die Librería Anticuaria Henschel. Edgardo, der Bücher liebte wie sein Vater, übernahm das Geschäft Ende der sechziger Jahre.
"Hier ist der Teil Kunst. Und dann haben wir hier Kulturgeschichte, hier ist Goethe, alles was Goethe ist. Und dann gibt's hier Philosophie, Psychologie. Und hier ist der Teil Judaica."
Immer wieder kamen auch Alt-Nazis in das Geschäft
Viviana Steinberg läuft an den Metall-Regalen voller Bücher entlang, die meisten sind in Leder gebunden, viele in gotischer Schrift gedruckt. Über Kundenmangel konnten sich Vater und Sohn Henschel nie beklagen. In Argentinien gab es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg eine deutsche Gemeinschaft, die sich durch die jüdische Immigration während der NS-Zeit vergrößerte. Nach 1945 setzte sich außerdem eine Reihe von Nationalsozialisten nach Argentinien ab. Kunden des Antiquariats waren Juden und Nichtjuden, und auch Menschen mit brauner Gesinnung verirrten sich in das Geschäft.
"Es kamen Deutsche und Deutschstämmige aller Ideologien. Mein Mann hat immer gesagt, er verkaufe Bücher, keine Ideen", ...
... sagt Evelina Henschel, Edgardos 71-jährige Witwe. So ist zu erklären, dass in der Buchhandlung heute ein Buch über Burschenschaften ebenso zu finden ist wie Schriften von Karl Marx.
"Einmal kamen hohe argentinische Polizei-Funktionäre und wollten Bücher von Goebbels. Mein Mann sagte, die habe er nicht, und sie kamen nie wieder."
Ein paar Mal auch "Mein Kampf" verkauft
In einigen Privatbibliotheken, die Edgardo Henschel aufkaufte, entdeckte er Hitlers "Mein Kampf". Ein paar Mal habe er das Buch verkauft, sagt Evelina Henschel.
"Es ist öfters passiert, grad bei Ausländern, die, ohne das Buch zu nennen, nach dem Buch gefragt haben. Das ist natürlich schwer, zumal ich ja aus jüdischer Familie stamme, ist es noch schwerer."
Beide Frauen sind sich aber einig: die Lektüre von Mein Kampf zu verbieten, mache keinen Sinn.
"Meiner Meinung nach hat jeder das Recht, dieses Buch zu lesen, um zu wissen, was drinsteht. Das heißt nicht, dass er ein Nazi ist. Man kann das, was jemand geschrieben hat, nicht auslöschen – auch wenn es noch so schrecklich ist."
Evelina Henschel hat eine schwere Entscheidung getroffen: Sie will das Antiquariat, die letzte deutsche Buchhandlung in Buenos Aires, aufgeben. In den vergangenen Jahren verkaufte die Librería Henschel auch übers Internet, nach Europa. Doch seit dem Tod ihres Mannes fehle dem Antiquariat der Kopf, sagt Henschels Witwe.
"Und in Argentinien lesen immer weniger Leute auf Deutsch. Die alten Deutschstämmigen sterben und die Jungen lesen vor allem im Internet. Falls in Deutschland jemand ein deutsches Antiquariat in Buenos Aires kaufen will – ich serviere es ihm auf dem Silbertablett. Aber ich fürchte, dass das Ende Librería Henschel bevorsteht."
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