Ende der Sorglosigkeit

Von Tonia Koch · 07.11.2012
Luxemburg ist ein attraktiver Wirtschaftsstandort, in dem auch Tausende von ausländischen Pendlern deutlich über dem europäischen Durchschnitt verdienen. Wirtschaftliche Nöte waren lange kein Thema für die Bewohner des Großherzogtums – möglicherweise ändert sich das jetzt.
Über die Place Clairefontaine in der Luxemburger Innenstadt hasten Geschäftsleute und Touristen auf ihrem Weg vom großherzoglichen Palais zur Kathedrale. Für 17 Uhr haben die Gewerkschaften zu einer Kundgebung auf dem Platz aufgerufen. Doch er füllt sich nur langsam. Aber schließlich ist die Bronzestatue der luxemburgischen Großherzogin Charlotte, die ansonsten den Platz beherrscht, dann doch von Fahnen schwenkenden Demonstranten umringt. Etwa 2.000 haben die Organisatoren zusammengetrommelt. Das reicht, um den Platz zu füllen.

Und es reicht auch, um gehört zu werden. Denn sowohl der luxemburgische Premier Jean Claude Juncker als auch der Außenminister haben ihren Amtssitz direkt am Platz. Auch zum Krautmarkt, zur Abgeordnetenkammer, sind es nur ein paar Schritte. Dort soll bereits bis Ende des Jahres über die Rentenkürzungspläne der Regierung entschieden werden. Betroffen davon sind alle: Arbeiter, Angestellte, Beamte.

"Angst um die Renten haben wir nicht, aber um Kürzungen haben wir Angst. Der Staat soll kürzer treten, die ganzen schönen Gebäude, das muss nicht alles sein. Wenn ich auf meine Pension schaue, wir kommen zurecht und können uns auch etwas Kleines leisten, aber üppig, nein. Wir in Luxemburg sind gewohnt, gute Renten zu haben, im Alter sollen wir auch gut entschädigt werden für die Arbeit, die man geleistet hat.""

Angst vor einem Kahlschlag muss im Großherzogtum niemand haben. Denn es sind zunächst lediglich behutsame Einschnitte ins System geplant. Das Renteneintrittsalter liegt bei 65 Jahren und es wird nicht angetastet. Bislang können die Beschäftigten ab 57 Jahren abschlagfrei aus dem Erwerbsleben ausscheiden, vorausgesetzt, sie können 40 Beitragsjahre vorweisen. Auch daran wird nicht gerüttelt. Allerdings ändert sich die Rentenformel, so dass die Beschäftigten im Endeffekt drei Jahre länger arbeiten müssen, wenn sie keine finanziellen Einbußen hinnehmen möchten. Darüber hinaus sollen die Altersbezüge künftig nicht mehr im gleichen Maße steigen wie Löhne und Gehälter. Der eingebaute Automatismus soll gebremst werden, für den Fall, dass es eng wird in den Kassen. Bei Durchschnittsrenten, die gut und gerne doppelt so hoch sind wie in Deutschland, sei dies verkraftbar, argumentiert Sozialminister Mars di Bartholomäo.

"Nun muss man wissen, wenn man Vergleiche zieht, dass die Durchschnittsrente in der Bundesrepublik bei 900 Euro liegt. Die Durchschnittsrente für Sesshafte in Luxemburg liegt jedoch zwischen 2000 und 3000 Euro. Wenn man alles miteinander vergleicht, ist die Situation der Rentner in Luxemburg im Vergleich mit dem Ausland ohne Konkurrenz."

Tatsächlich wird mit der Rentenreform ein auf den ersten Blick äußerst luxuriöses Problem diskutiert. Die Rentenkassen sind nämlich alles andere als leer, im Gegenteil. 12 Milliarden Euro liegen auf der hohen Kante.

"Zur Zeit strotzt das Pensionsregime nur so vor Gesundheit. Die Reserven sind vier Mal höher als die jährlichen Ausgaben. Oder in der Theorie würden die Reserven genügen, während vier Jahren die Leistungen auszubezahlen, ohne dass ein Euro reinkommt."

Genau deshalb halten es die Gewerkschaften auch für falsch, bei den Renten die Reißleine zu ziehen. Die Reform sei Aktionismus, nichts weiter, denn zum jetzigen Zeitpunkt könne nicht verlässlich vorhergesagt werden, wie sich die Situation in 10 Jahren entwickeln werde. Carlos Pereira, Rentenexperte des Allgemeinen luxemburgischen Gewerkschaftsbundes.

"Wenn die Projektionen, die momentan gemacht werden, richtig sind, dann sprechen wir von 2022, wo man vielleicht anfängt, an die Reserven zu gehen. Also gibt es keinen Grund im Moment Leistungsverschlechterungen durchzusetzen. Ich bin nicht überzeugt von diesem Blick in die Kristallkugel."

Die komfortable Lage verdankt das Großherzogtum einer Art Jobwunder. Es hat in den 80er-Jahren eingesetzt. Im Durchschnitt hat die Beschäftigung seitdem jedes Jahr um vier Prozent zugenommen. Im eigenen Land fanden sich schon bald nicht mehr so viele Arbeitskräfte wie nötig. Sie wurden deshalb nach und nach jenseits der Landesgrenzen in Belgien, Deutschland und Frankreich angeworben. Zur Zeit pendeln tagtäglich 158.000 Menschen aus den Nachbarländern ins Großherzogtum.

Die Gruppe der Pendler stellt damit nahezu die Hälfte der Erwerbsbevölkerung. Kein Bereich, kein Sektor kommt ohne sie aus. Mit Ausnahme des Staatsdienstes sind sie überall zu finden, in der Stahlindustrie, dem Handel, der Gastronomie, dem Gesundheitswesen und dem Bankensektor. Die meisten kommen aus Frankreich:

"Ich arbeite in einem Hotel, auf dem Kirchberg. Seit 20 Jahren arbeite ich in einer Bank."

In anderen Ländern wird im Zusammenhang mit ausländischen Arbeitskräften über Abschlüsse, kulturelle Eigenheiten oder über Sprachbarrieren gesprochen, die mit den Erfordernissen des Arbeitsmarktes nicht kompatibel sind. Nicht so in Luxemburg. Ausländische Abschlüsse werden anerkannt und die Landessprache ist zwar Luxemburgisch, aber, die Bevölkerung ist mehrsprachig, das heißt, wer Deutsch oder Französisch redet, wird verstanden und kann sich selbst verständlich machen.

Das einzige Problem, das Luxemburg mit seinen Pendlern hat, ist der Transport. Denn irgendwie müssen sie in das kleine Land, das selbst nur über eine halbe Million Einwohner verfügt – morgens 158.000 Menschen hinein und abends wieder hinaus. In Richtung Frankreich auf der Stecke Luxemburg-Thionville-Metz soll die Bahn es richten, sagt der für den Personenverkehr zuständige Bahnvorstand Marc Hoffmann:

"Von Frankreich her gesehen haben wir jeden Tag 9.000 Leute die mit dem Zug kommen, das sind etwa 15 Züge für die Spitzenstunden morgens und abends."

Das System funktioniere finden die Reisenden, aber…

"… im Moment sind sie allerdings oft zu spät. Ja, ja, das geht schon, eine Zeitlang habe ich es mit dem Auto probiert, stand aber nur im Stau, selbst wenn der Zug Verspätung hat, ist es immer noch angenehmer mit dem Zug."

Die Taktzahl auf deutscher Seite ist längst nicht so hoch, noch nicht.

Im Blitzlichtgewitter der Fotografen strahlten der deutsche Verkehrsminister Peter Ramsauer und sein luxemburgischer Amtskollege Claude Wiseler um die Wette. Endlich konnten sie im Beisein einer Reihe von Honoratioren aus beiden Ländern ein Abkommen unterzeichnen, das der Bahnverbindung von und nach Deutschland Auftrieb verschaffen soll. 20 Millionen Euro werden in die Ertüchtigung der Strecke Luxemburg -Trier gesteckt. Es hat Jahre gedauert, weil die deutsche Bahn lange kein Interesse am Ausbau der Verbindung hatte, da das viele Geld sie nicht schneller macht, sondern lediglich mehr Zugverbindungen erlaubt. Das aber nutzt in erster Linie den Luxemburgern und sie legen deshalb acht Millionen Euro auf den Tisch, damit auf deutscher Seite ein zweites Gleis gebaut wird. Ungewöhnlich, aber folgerichtig, findet das der deutsche Verkehrsminister:

"Dass das gelungen ist, war ein Gemeinschaftswerk und so konnten wir die 20 Millionen in einer ganz fairen Weise aufteilen, so dass es jetzt richtig losgehen kann."

Derweil erläutert Peter Ramsauers luxemburgischer Amtkollege, Claude Wiseler, alle Details der Übereinkunft der französischsprachigen Presse, um dann noch einmal auf Deutsch zu erläutern, warum das Großherzogtum keine andere Wahl hatte, als sich finanziell zu beteiligen:

"Für uns ist diese Strecke extrem wichtig, weil es unsere einzige Verbindung an das deutsche Schienennetz ist und wollen wir vom Individualverkehr immer mehr Leute auf den öffentlichen Transport bringen, dann müssen wir eine qualitativ und quantitativ ordentliche Strecke anbieten."

Trotz beachtlicher Fahrgaststeigerungen in Bussen und Bahnen bevorzugen noch immer 86 Prozent der Pendler das Auto.

Jeden morgen und jeden Abend sorgen die Blechlawinen für kilometerlange Staus rund um das Land. Auch ohne Staus braucht jeder Pendler jetzt schon im Schnitt 100 Minuten um hin zu kommen an seinen Arbeitsplatz und wieder nach Hause.
Noch nähmen die Pendler all diese Unbill in Kauf, sagt ein deutscher Metallfacharbeiter, der sich in der Innenstadt unter die Gegner der Rentenreform gemischt hat:

"Bei mir sind es 40 Kilometer ein Weg. Andere Leute kommen 80, 100, 120 Kilometer jeden Tag rein. Das muss ja lukrativ bleiben, wenn diese Leute wegbleiben, dann geht die Wirtschaft schnell den Bach runter."

Für die Wirtschaft des Landes und die Sicherung des Lebensstandards der einheimischen Bevölkerung sind die Grenzgänger unverzichtbar. Ein Blick in die Statistiken, die Luxemburg häufig weltweit als Spitzenreiter bei Wachstum und Wohlstand ausweisenden, zeigt es. Zum Beispiel liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner mehr als zweieinhalb Mal so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Die Wirtschaftsleistung der ausländischen Arbeitskräfte wird also der in Luxemburg wohnhaften Bevölkerung gutgeschrieben. Das verzerrt das Bild zwar ein wenig in Richtung paradiesischer Zustände. Aber, weit weg vom Schlaraffenland liegt das Großherzogtum gerade für Grenzgänger, die Erfahrungen aus den Heimatländern mitbringen, nicht, glaubt die deutsche Bankangestellte Christine Kawei:

"Man kann es nicht mit Deutschland vergleichen, da liegen Welten dazwischen. Nur, es kann auf die Dauer nicht so weiter gehen. Irgendwann muss eingespart werden, aber es sollte nicht an der falschen Stelle sein."

Es sind deutsche Institute, wie die Stiftung Marktwirtschaft, die den Luxemburgern in letzter Zeit den Spiegel vorhalten. Ihr fürsorglicher Staat lebe massiv über seine Verhältnisse, klagen die liberalen Denker in deutschen Wirtschaftsgazetten. Es gibt keine Luxemburger Zeitung, die über diese von außen hineingetragene Schreckensvision, der luxemburgische Sozialstaat sei dem Ende nahe, nicht berichtet hätte. Der Sozialminister findet dafür unmissverständliche Worte.

"Das ist Quatsch im Quadrat. Diese Projektion ist nichts wert, weil sie voraussetzt, dass wir nicht handeln. Wir handeln."

Dass die Luxemburger in ihr äußerst üppiges Rentensystem werden eingreifen müssen, ist ihnen bewusst, weil das Beschäftigungswachstum sich verlangsamt hat und schon bald immer weniger Erwerbstätigen immer mehr Rentnerinnen und Rentner gegenüberstehen werden. Die Regierung habe den Ernst dieser Entwicklung nicht richtig erkannt, der Reformansatz sei halbherzig, argumentiert Pierre Bley, Direktor des luxemburgischen Unternehmerverbandes:

"Wir gehen davon aus, dass die Regierung mit diesem Gesetzesvorhaben nicht die Ambition hat, das System dauerhaft zu sanieren. Sondern, na ja, dass die nächste Regierung noch einen Schritt hinzulegen muss. Das ist aber nicht die richtige Art und Weise, weil jetzt das Zeitfenster gewesen wäre, um entschlossener weiter zu gehen."

Bley sitzt in einem der vielen Glaspaläste auf dem Luxemburger Kirchberg. Hier – knapp zwei Kilometer vom alten Stadtzentrum entfernt – residieren die europäischen Institutionen, Banken, Fondsgesellschaften. Hier denken und handeln die Menschen global. Soziale Errungenschaften wie etwa der Mindestlohn, der aktuell bei 1.846 Euro liegt, die automatische Anpassung von Löhnen, Gehältern an die Preisentwicklung oder jährliche Beihilfen für Studierende, die bis zu 17.000 Euro betragen können, ganz gleich wie hoch das Einkommen der Eltern auch sein mag. Auf dem Kirchberg spielt all das keine Rolle. Hier liegt der Ausländeranteil bei zwei Dritteln und hier regiert das Kapital, vornehmlich ausländisches Kapital. Davor müsse sich jedoch niemand fürchten, sagt Bley:

"Luxemburg hat immer von ausländischen Kapitalgebern gelebt, die Eisen- und Stahlindustrie, als die im 19.Jahrhundert gegründet wurde, das Gros war ausländisches Kapital, am Bankenplatz war da auch so, wir sind daran gewöhnt, wir haben immer mit ausländischem Kapital gelebt."

Nur sei der Bankenplatz inzwischen übermächtig, es müsse dringend gegengesteuert werden, glaubt der Unternehmensvertreter:

"Wir setzen jetzt alle daran, die Industrie in Luxemburg wieder aufblühen zu lassen, von Reindustrialisierung sprechen wir, weil wir der Meinung sind, dass man ein Land nicht aufbauen kann bloß auf einem pillier [Pfeiler]. Das ist nicht vorteilhaft und auch sehr risikoreich."

Die Auseinandersetzungen um grundsätzliche Position in der Wirtschafts- und Sozialpolitik werden härter in Luxemburg, wenn das Wachstum wie abzusehen ein Pause einlegt und die Arbeitslosigkeit weiter steigt.

Übers Internet hat die Jugendsekretärin des allgemeinen luxemburgischen Gewerkschaftsbundes, Taina Bofferding, zum Protest gegen die wachsende Jugendarbeitslosigkeit aufgerufen. Die junge Frau, begleitet von einer Handvoll Gewerkschaftsvertreter, hat sich vor der Abgeordnetenkammer aufgebaut. Die Situation ist neu für sie, Proteste zu organisieren ist sie nicht gewohnt, aber schließlich steigt sie die Stufen der Steintreppe bis zur Eingangstür hinauf und testet das mitgebrachte Megafon.

Nötig ist der Stimmverstärker nicht unbedingt, denn es sind nur wenige Demonstranten gekommen. Ein paar Abgeordnete sind auf ihrem Weg zur Parlamentssitzung am Rand stehen geblieben und wirken eher belustigt darüber, was sich hier draußen vor der Kammer abspielt. Und die wenigen jungen Leute, die vom Problem Jugendarbeitslosigkeit betroffen sein könnten, lassen sich an einer Hand abzählen.

"Ich denke, wir sind alle heute hier, um darauf aufmerksam zu machen, dass es ein Problem europaweit gibt, das auch in Luxemburg immer größer zu werden scheint."

Über 18 Prozent der jungen Leute unter 30 finden im reichsten Land der EU keinen regulären Job. Sie drehen Ehrenrunden in Berufsvorbereitungskursen oder einjährigen Praktika. Die Bezahlung orientiert sich an den Mindestlöhnen. Zu Beginn des sogenannten nationalen Krisenplans 2009 wurden nur jene Jugendlichen an die Hand genommen, die keinen Schulabschluss und keine Ausbildung hatten. Inzwischen führt aber auch der Weg vieler Hochschulabsolventen und derjenigen, die eine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen können, in diese beruflichen Warteschleifen. Die jungen Leute sind größtenteils irgendwo untergebracht. Aber ob die zahlreichen Eingliederungsmaßnahmen auch tatsächlich erfolgreich sind, also zu regulärer Beschäftigung führen, dass müsse dringend überprüft werden. Jetzt sei Gelegenheit dazu, sagt Taina Bofferding:

"Wir haben im Herbst einige Debatten im Parlament, da muss über die Jugend gesprochen werden."

Die Aktion der jungen Gewerkschaftsführerin endet mit einem Signalton. Dann laufen alle auseinander. Viel bewegt hat diese Demonstration nicht.
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