Ende der Gutsherrlichkeit

05.10.2006
Ostpreußen 1944/45 - die wenigen verbliebenen Bewohner des Guts Georgenhof sind gefangen im Schreckensszenario des zu Ende gehenden Krieges. Sie verharren in ihrem Kosmos und ignorieren den drohenden Verlust ihrer Heimat. Mit "Alles umsonst" hat Walter Kempowski einen eigentümlich faszinierenden Roman vorgelegt.
"Unweit von Mitkau, einer kleinen Stadt in Ostpreußen, lag das Gut Georgenhof mit seinen alten Eichen wie eine Hallig im Meer" – so setzt Walter Kempowskis "Alles umsonst" ein und tut so, als trete hier ein Nachfahr Theodor Fontanes an, um in bedächtiger "Stechlin"-Tradition alte Geschichten aus entfernten Landstrichen auszubreiten. Doch der Schein trügt: Walter Kempowski ist ein versierter Erzähler, der seine Leser in Sicherheit wiegen will, ehe er eine Handlung entfaltet, die die Bedrohung nicht mehr unter der Oberfläche zu halten vermag.

Schon der erste Dialogfetzen – "Gelegentlich müssen Sie den Efeu abmachen, der frisst Ihnen den ganzen Putz kaputt" – signalisiert, dass es mit der Gutsherrlichkeit auf dem Georgenhof nicht mehr weit her ist. Wo Dubslav von Stechlin die "neue Zeit" am Horizont unheilvoll nahen sah, sind die Gutsbesitzer Kempowskis, Katharina und Eberhard von Globig, gefangen im Schreckensszenario des zu Ende gehenden Weltkriegs. Im Winter 1944/45 spielt "Alles umsonst"; wenige Menschen bevölkern das abgetakelte Gutshaus: Hausherr Eberhard ist als Offizier nach Italien entsandt und lässt Ehefrau Katharina, eine wirklichkeitsfremde Träumerin, und den zwölfjährigen Sohn Peter zurück, zum Glück unter der Obhut eines regen "Tantchens", das mit resoluter Hand die immer schlechter laufenden Geschäfte des Hofs verwaltet.

Wenig geschieht in der Abgeschiedenheit der Globigs. Aus Mitkau kommt regelmäßig Lehrer Dr. Wagner zu Besuch, der Peter Privatunterricht erteilt, wohingegen der Nazi-Repräsentant vor Ort das Gut misstrauisch beäugt. Und immer wieder gelangen Durchreisende auf den Hof, die für Abwechslung sorgen: mal ein "Nationalökonom", der lieber Tischler geworden wäre, mal eine hungrige Geigerin, die kurzerhand mit ihren Melodien den Kriegswinter aufhellt. "So gemütlich" erscheint dann der abgeschottete Zirkel dieser ostpreußischen Adelsfamilie, und es ist der große Kunstgriff Kempowskis, diese scheinbar kaum angekratzte Welt in Kontrast zu setzen zu dem, was "draußen" vor sich geht: Während die Georgenhof-Sippe so tut, als sei die Welt gefestigt, wie es die Kinoschlager (die den Text leitmotivisch durchziehen) suggerieren, kündigt sich der Niedergang des Hitler-Regimes an, und während man sich selbst um die Verpflegung nicht zu sorgen braucht, versucht man wochenlang zu verdrängen, dass die russischen Soldaten alsbald westwärts rücken werden.

"Alles umsonst" zeigt Menschen, die die Gefahr nicht sehen wollen. Während die Aufgabe der Heimat unmittelbar bevorsteht, sinnieren sie immer wieder aufs Neue über weit zurückliegende Ereignisse nach: Katharina über einen geheimen Ostseeausflug, den sie 1936, als ihr Mann die Olympischen Spielen in Berlin besuchte, mit Mitkaus Bürgermeister Sarkander unternahm, und Lehrer Wagner über die famos schmackhaften Flundern, die er einst in Königsberg genoss.

Walter Kempowski findet für diesen überschaubaren Kosmos von Leuten, die das Weltgeschehen nur in ihren engen Dimensionen sehen, einen Stil, der geschmeidig und mit zum Teil kühnen Entgrenzungen arbeitet. Mal lässt er spielerisch eine Katze reflektieren, mal interpunktiert Kempowski so überraschend, dass die häufigen Fragezeichen des Textes das psychische Durcheinander seiner angeschlagenen Helden genau wiedergeben: "Das Tuten der Schiffe und die gebratenen Flundern, das ging Dr. Wagner nicht aus dem Sinn. Und goldgelbe, krosse Bratkartoffeln? An sich doch ein so einfaches Gericht?"

Aus den Fragezeichen werden bald Ausrufezeichen. Katharina lässt sich dazu überreden, einen zwielichtigen, dem Regime feindlich gesonnenen Mann in ihrer Kemenate zu verstecken und leitet damit das Ende ihres Clans ein: Während sich die Gutsbewohner in letzter Minute aufmachen, vor den Russen zu fliehen, fliegt Katharinas Tat auf, und sie landet im Gefängnis. Je weiter der Treck nach Westen zieht, desto rascher summiert sich die Zahl der Toten: "Tantchens" Kutsche wird von einer Bombe getroffen; Eberhard nimmt sich in Italien das Leben, und auch Peters Lehrer kommt im Fluchtchaos um.

Alles Mühen, alles Leiden war "umsonst" ... Peter bleibt als Waise mit ungewissem Schicksal übrig. Walter Kempowski, der gewiss nicht im Verdacht steht, sich an die neuerdings modisch gewordenen Themen "Flucht" und "Vertreibung" anzuhängen, hat einen eigentümlich faszinierenden Roman geschrieben – über eine Zeitspanne, die er wie kaum ein Zweiter kennt und der er sich, etwa in seinen "Echolot"-Bänden "Fuga furiosa" auf ganz andere Weise genähert hat.

Rezensiert von Rainer Moritz

Walter Kempowski: Alles umsonst
Albrecht Knaus Verlag
448 Seiten, 21,95 Euro