Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei?

"Unsere Türen müssen offen bleiben"

Der SPD-Außenpolitiker Niels Annen.
Der SPD-Außenpolitiker Niels Annen. © pa/dpa/Kappeler
Niels Annen im Gespräch mit Nana Brink · 14.06.2016
Ein Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fordert EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU). SPD-Außenexperte Niels Annen hält das für falsch - auch wenn völlig klar sei, dass die Türkei in der gegenwärtigen Verfassung nicht EU-Mitglied werden könne.
Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Niels Annen, ist gegen einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.
"Unsere Türen müssen offen bleiben", sagt Annen. Gleichzeitig räumt der SPD-Politiker ein, es sei "völlig klar", dass die Türkei in der gegenwärtigen Verfassung niemals Mitglied der Europäischen Union werden könne. Aber falls sich die türkische Politik verändern sollte, müsse es auch eine faire Chance für das Land geben.
"Es liegt an der türkischen Politik, sich zu entscheiden", so Annen.

"Klammheimliche Freude" bei der Union?

Der SPD-Außenexperte kritisiert die "klammheimliche Freude" einiger Unionspolitiker, die immer schon gegen einen EU-Beitritt der Türkei gewesen seien, und weist diesen eine Mitverantwortung für die gegenwärtige schwierige Situation zu: Einige Politiker von CDU/CSU hätten hinsichtlich eines EU-Beitritts der Türkei auf der Bremse gestanden - zu einem Zeitpunkt, als es in der Türkei noch eine an Europa orientierte Politik gegeben habe.
"Da ist viel falsch gemacht worden, und deswegen bedaure ich das etwas, dass man jetzt hier eine so zugespitzte Debatte führt."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Die Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU ist eine Lebenslüge einer ganzen Politikergeneration! – So deutlich wie der CSU-Politiker Manfred Weber, Vorsitzender der konservativen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, hat das ja selten einer gesagt. Und konsequenterweise geht er noch einen Schritt weiter und fordert einen Neustart der Beziehungen. Konsequenterweise ohne eine Beitrittsperspektive für die Türkei.
Das fordert die EVP ja schon seit 2014, neu aber ist, dass sie sich auch von den Sozialdemokraten unterstützt sieht. Und da bezieht sie sich auf die Äußerungen von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der hatte ja die verbalen Attacken Erdogans gegen Bundestagsabgeordnete nach der Armenien-Resolution des deutschen Parlaments als absoluten Tabubruch bezeichnet. Niels Annen ist außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, ich grüße Sie!
Niels Annen: Ja, schönen guten Morgen!

Ablenkungsmanöver der CSU?

Brink: Werden Sie die Beitrittsverhandlungen abbrechen?
Annen: Ich glaube, Herr Weber hat einen geschickten Weg gefunden, etwas von einer eigenen Fehleinschätzung abzulenken. Man muss mal ein bisschen sortieren, wie die Debatte im Moment läuft. Und erstens ist doch völlig klar, dass eine Türkei in der gegenwärtigen Verfassung niemals Mitglied der Europäischen Union werden kann. Das ist die Debatte, die wir im Moment führen, die völlig inakzeptablen Angriffe auf türkischstämmige deutsche Bundestagsabgeordnete, das Verhalten gegenüber der Opposition im eigenen Land, darüber muss man ja gar nicht reden.
Die eigentliche Frage ist doch, ob man in den letzten Jahren wirklich von europäischer Seite sich richtig verhalten hat gegenüber der Türkei, und da kann ich nur sagen: Die Tatsache, dass die CDU und die CSU inklusive Kanzlerin Merkel damals auf der Bremse standen, als es in der Türkei noch eine Politik gab, die sich wirklich an Europa orientiert hat, die Reformen durchgeführt hat, die ist eine falsche gewesen und hat gerade den Kräften innerhalb der Türkei, die ja immer gesagt haben, schaut einmal dort, die Europäer wollen doch eigentlich ein christlicher Club bleiben und uns gar nicht als Mitglied haben, jetzt doch quasi recht gegeben. Also, da ist sie falsch gemacht worden und deswegen bedauere ich das etwas, dass man jetzt hier eine so zugespitzte Debatte führt.

Das Momentum für einen EU-Beitritt der Türkei verpasst

Brink: Nun ist sozusagen Präsident Erdogan ja nun frei gewählt und das Parlament und die Regierung, die die Türkei hat, ist ja nicht von irgendjemandem auch aus der Europäischen Union aufoktroyiert worden. Aber hat Weber nicht recht, wenn er sagt, dass sich die Türkei vom Ziel der Vollmitgliedschaft mit jedem Tag weiter entfernt in den letzten Monaten?
Annen: Ja, der Meinung bin ich auch. Ich glaube, darüber gibt es auch gar keinen Streit in der deutschen Politik. Ich habe nur so ein bisschen den Eindruck, dass gerade bei der CSU einige da quasi triumphieren, die sagen, seht ihr, wir wollten das doch sowieso nicht, wir haben es euch immer gesagt. Diese Politik hat auch Konsequenzen. Und deswegen glaube ich, dass man das Momentum, das im Moment sicherlich nicht da ist, damals verpasst hat, und heute ist die Entwicklung so, wie sie ist, da sind wir uns alle einig.
Und deswegen kann ich nur noch einmal wiederholen: Die Türkei kann in dem gegenwärtigen Zustand natürlich nicht Mitglied der Europäischen Union sein, aber eine Beitrittsperspektive, diese Beitrittsmöglichkeit, die sollte ja nicht an uns scheitern, sondern es gibt klare Regeln, an die sich alle zu halten haben. Und deswegen ist ja manchmal auch so ein bisschen die Terminologie irreführend: Wir reden von Beitragsverhandlungen, das suggeriert ja, als ob zwei Seiten darüber gleichberechtigt verhandeln, wie sich der Weg entwickelt. In Wirklichkeit ist es ja keine Verhandlung, sondern es geht darum, ob ein Land, das Mitglied werden möchte, die Bedingungen erfüllt. Und das tut die Türkei zurzeit nicht.
Brink: Aber man muss ja … Das sagen Sie ja ganz klar und deutlich, daraus muss man aber auch eine Konsequenz ableiten! Was macht denn die SPD? Sie sagen ja ganz deutlich, das kann jetzt im Moment nicht passieren, es gibt keine Beitrittsperspektive, da muss man vielleicht auch mal so deutlich aussprechen. Was ist denn dann die Konsequenz daraus?

Die Türkei braucht eine faire Chance

Annen: Ich finde, die Konsequenz ist ganz eindeutig: Unsere Türen müssen offenbleiben. Und das bedeutet, wenn sich die türkische Politik verändern sollte, dann muss es auch eine faire Chance geben für das Land, Mitglied der Europäischen Union [Korrektur eines Versprechers in der gesendeten Fassung, wo es stattdessen heißt: Türkei] werden zu können. Wir haben ja im Moment …
Brink: Also, Sie wollen das nicht ausschließen?
Annen: Nein, ich möchte das überhaupt nicht ausschließen. Wir sehen ja, dass viele Menschen in der Türkei Hoffnungen mit Europa verbinden. Es sind ja gerade auch die oppositionellen Kräfte diejenigen, die sich für Meinungsfreiheit, für Pressefreiheit einsetzen, die sich auch an unser Land wenden, an die deutsche Politik, an die europäische Politik, mit der Hoffnung, dort Unterstützung zu erhalten.
Und wir stehen ja zum Beispiel bei der Frage der Visabefreiung oder der Visafreiheit für türkische Bürger genau vor diesem Dilemma: Auf der einen Seite – und das ist auch meine Position – erwarten wir von Präsident Erdogan, dass er zum Beispiel den Terrorparagrafen verändert, das ist eine Bedingung, die er erfüllen muss und die er nicht erfüllt. Auf der anderen Seite weiß ich auch, dass wir möglicherweise Hunderttausende, vielleicht Millionen von türkischen Bürgerinnen und Bürgern, die Hoffnung mit Europa sozusagen verbinden, enttäuschen, wenn wir diese Freiheit nicht sozusagen gewähren. Das ist ein Dilemma, das man nicht einfach durch ein Interview eines CSU-Politikers auflösen kann.

"Klammheimliche Freude" der Union nicht nachvollziehbar

Brink: Aber man kann ja schon die Frage auch mal andersherum stellen: Was hat denn die Europäische Union, was haben wir von einer Vollmitgliedschaft der Türkei? Man kann ja auch auf anderen Ebenen kooperieren.
Annen: Ja, natürlich, wir tun das ja auch mit vielen anderen Ländern, die nicht Mitglied sind. Aber was wir im Moment erleben, ist ja eine sehr gefährliche Entfremdung zwischen Europa und der Türkei, und das hat Konsequenzen. Diese Entfremdung hat ja die Kräfte gestärkt innerhalb Ankaras, auch innerhalb der Partei von Herrn Erdogan, die sich für den Weg einer stärkeren Islamisierung der türkischen Politik entschieden haben. Diese Politik hat die Kräfte innerhalb der Türkei gestärkt, die jetzt dafür gesorgt haben, dass der Friedensprozess mit den Kurden zerstört worden ist, dass es dort in einigen Teilen des Landes wieder bürgerkriegsähnliche Situationen gibt. Das alles hat ja auch Konsequenzen für uns selber.
Schauen Sie, ich vertreten einen Wahlkreis in meiner Heimatstadt Hamburg, in dem es viele Menschen gibt, die aus der Türkei stammen, die Familie haben, zum Teil werden die Konflikte, die in der Türkei stattfinden, auch auf unseren Straßen ausgetragen. Deswegen kann uns das nicht egal sein. Und das ist einfach ein Land, mit dem wir in politischer, familiärer, kultureller, wirtschaftlicher Hinsicht sehr eng miteinander verbunden sind. Und deswegen kann ich einfach diese klammheimliche Freude bei einigen Unionspolitikern nicht nachvollziehen, die jetzt quasi sagen, seht ihr, das haben wir euch doch immer gesagt.

Beitrittsprozess wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern

Brink: Aber es ist ja unstreitig, dass das Hauptargument der SPD – das haben Sie ja ausgeführt – immer wieder ist, wir wollen eine Modernisierung der Türkei, deshalb wollen wir diese Beitrittsperspektive haben. Aber es passiert ja genau das Gegenteil und es passiert in einer horrenden Schnelligkeit: Gleichberechtigung, Justiz, Bürgerrechte, all das kippt ja sozusagen!
Annen: Ja, diese Beobachtung teile ich. Ich teile auch die Sorge, und deswegen kann ich nur noch einmal wiederholen … Es ist ja keine abstrakte Debatte, die wir führen. Mir geht es darum, dass die Tore der Europäischen Union für die Türkei offenbleiben müssen. Und es liegt an der türkischen Politik, sich zu entscheiden. Und wir müssen bereitstehen, diejenigen innerhalb der Türkei, die es ja gibt in den großen Städten, in den Metropolen, die sich für eine proeuropäische, für eine rechtsstaatliche Politik gegenüber der Europäischen Union einsetzen, dass wir die unterstützen.
Aber wir können doch weder als SPD noch als deutsche Politik insgesamt die Entscheidung für die Türkei treffen. Das wird nicht funktionieren, das wäre auch eine völlig unrealistische Einschätzung unserer eigenen Möglichkeiten. Und deswegen geht es um eine Botschaft. Und selbst wenn man sagen würde, wir beginnen jetzt wieder mit neuen Kapiteln, die wir öffnen wollen – Frau Merkel hat das ja angedeutet, übrigens eine Veränderung ihrer eigenen Politik –, dann ist das ein Prozess, der Jahre, möglicherweise noch Jahrzehnte dauern wird.
Brink: Niels Annen, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Vielen Dank, Herr Annen, für das Gespräch!
Annen: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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