Emrah Serbes: "Deliduman"

Lebendiges Dokument des Widerstands

Besprochen von Carsten Hueck · 16.01.2016
Der türkische Schriftsteller Emrah Serbes erzählt in seinem Roman "Deliduman" von jungen Außenseitern in der Türkei - und wie die Gezi-Park-Bewegung ihre Lebenspläne durchkreuzt. Mit viel Humor demaskiert er dabei Lügen, Korruption und Staatsgewalt.
Als 2014 der Erzählband "Junge Verlierer" in Deutschland erschien, machte er seinen Autor Emrah Serbes hierzulande schlagartig bekannt.
Da war eine literarische Stimme aus der Türkei zu hören, die man so nicht kannte: jugendlicher Straßenjargon, wütend, doch humorvoll, ironisch, von Melancholie durchtränkt. In seiner Heimat ist der 1981 geborene Serbes schon längst ein Star. 50.000 mal verkaufte sich dort "Junge Verlierer". Vor allem aber Serbes' Kriminalromane sind Kult in der Türkei: Sie wurden für das Kino verfilmt, und für das Fernsehen entwickelte der Autor daraus eine preisgekrönte Serie.

Nun ist ein Roman von Emrah Serbes auf Deutsch erschienen: "Deliduman" ("Wilder Rauch"). Der Ich-Erzähler Caglar ist ein siebzehnjähriger Junge aus einer kleinen Küstenstadt nahe Istanbul. Sein Onkel, ein politischer Überlebenskünstler, ist Bürgermeister des Ortes, sein Vater hat sich nach Istanbul verabschiedet, seine Mutter hat Depressionen und Angstzustände, seine neunjährige Schwester ist übergewichtig. Da Diät allein zum Abnehmen nicht ausreicht, haben ihr die Ärzte empfohlen zu tanzen.
Eine seelenlose Welt
Caglar ist für sie Trainer, Beschützer und Manager. Bedingungslos glaubt er an das Talent seiner Schwester: "Meine Schwester tanzt, um dieser seelenlosen Welt ihre Seele zu schenken."
Wenn er davon schwärmt, wie sie den "Moonwalk" besser performt als Michael Jackson es selbst je gekonnt hat, glaubt man gerne an einen märchenhaften Ausgang der Geschichte. Als die Neunjährige aber schon beim ersten TV-Talentwettbewerb trotz Interventionen des Onkels - und seiner Partei, der der Sender gehört – nicht mitmachen darf, schwant einem, dass man es auch in diesem Buch wieder mit "jungen Verlieren" zu hat. Nachdem die TV-Verantwortlichen schließlich anbieten, das kleine, fettleibige Mädchen mit weißer Krawatte und vergoldeten Lederhandschuhen, in einer Sendung für Komiker auftreten zu lassen, beschließt ihr Bruder, ihr über die sozialen Netzwerke zu wohlverdientem Ruhm zu verhelfen. Das in der Garage gedrehte Tanzvideo erzielt tatsächlich rasant steigende Klickzahlen – die plötzlich stagnieren.
Im Istanbuler Gezi-Park ist die Revolte ausgebrochen und jeder interessiert sich nur mehr für den Verlauf der Proteste gegen die Regierung und die Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht.
Serbes war selbst an der Gezi-Bewegung beteiligt
Emrah Serbes hat einen Roman über die Gezi-Bewegung, an der er 2013 selbst aktiv teilgenommen hat, geschrieben, ohne diese in den Vordergrund zu stellen. Sein Kunstgriff besteht darin, die Ereignisse aus der Perspektive Unbeteiligter zu schildern, die dann eher zufällig in den Sog der Ereignisse geraten. Es sind nicht die historischen Helden des Aufstands, die bei ihm im Mittelpunkt stehen, sondern Außenseiter, sozial Benachteiligte, die täglich um ihren Stolz und um gesellschaftliche Akzeptanz kämpfen. Der Autor zeichnet jene Generation junger Türken und Türkinnen, die versuchen, selbstbestimmt zu leben. Ihr (Sprach-)Witz und die Tiefe ihrer Gefühle demaskiert alle phrasendreschenden Vertreter einer autoritären und sich traditionell gebenden Regierung.
"Deliduman" ist ein lebendiges Dokument des Widerstands gegen Lügen, Korruption und türkische Staatsgewalt. Und gleichzeitig eine Hommage des Autors an die Lebens-und Liebeskraft seiner Landsleute.

Emrah Serbes: Deliduman
Aus dem Türkischen von Selma Wels
binooki Verlag, Berlin 2015
407 Seiten, 24,90 Euro

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