Empathie als Weg zum Frieden

Von Knut Cordsen · 24.11.2008
Der israelische Schriftsteller David Grossman hat den Geschwister-Scholl-Preis 2008 erhalten. Ausgezeichnet wurde er für sein Buch "Die Kraft zur Korrektur", eine Sammlung von Essays aus den letzten Jahren zu Politik und Literatur, und ausdrücklich auch für sein Gesamtwerk, in dem er laut Jury "immer wieder für eine Literatur plädiert, die auch unter den Bedingungen des Krieges ein Refugium der Freiheit bleiben müsse".
"Ever since I was a very young man and I heard the story of the Geschwister Scholl and their friends I was really touched and inspired by them ..."

Schon als junger Mann habe ihn die Geschichte der Geschwister Scholl und ihrer Mitstreiter tief berührt und inspiriert, sagte David Grossman heute kurz vor Entgegennahme des Geschwister-Scholl-Preises. Die Tatsache, dass es in diesen düsteren Zeiten, unter einem totalitären Regime wie dem der Nazis, unter einem allumfassenden Propaganda-Apparat Menschen gab, die sich dem Zeitgeist entgegenstellten und konträr zur Mehrheit der Gesellschaft verhielten, diese Tatsache, so Grossman," zeigte mir schon früh, dass wir nicht notwendigerweise die Opfer einer bestimmten Situation, die Opfer vorgegebener Verhältnisse sein müssen. Nein, ihr Vorbild zeigt uns, dass man sein Schicksal selbst in die Hände nehmen kann. Es ist eine große Ehre für mich, diesen Preis hier in München entgegennehmen zu dürfen".

Am Abend dann holte der 54-jährige Grossman weiter aus. In der Aula der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität - dort, wo die Mitglieder der Weißen Rose einst ihre Flugblätter verteilten, rief er jene Worte in Erinnerung, die für Hans und Sophie Scholl besondere Bedeutung hatten, und Grossman zitierte auf Deutsch:

"'Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten' ist, wie Sie wissen, eine Zeile von Goethe, die der Vater von Hans Scholl diesem in seiner Kindheit oft vorgelesen hatte. Dies sind die Worte, die Hans wenige Minuten vor seiner Hinrichtung mit Bleistift an die Wand seiner Zelle geschrieben hat."

David Grossman schreibt in seinem nun mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichneten Buch "Die Kraft zur Korrektur": "Ich merke, dass das präzise Benutzen der Worte zur Medizin werden kann."

Diesen Satz wider alle "Sprachbetrüger" griff Rachel Salamander, die Herausgeberin der "Literarischen Welt", in ihrer Lobrede auf den israelischen Schriftsteller auf.

"Ein herausragendes Motiv seiner schriftstellerischen Arbeit scheint mir die Sprachkritik zu sein, die gegen die sprachliche Lüge und Irreführung der Menschen ankämpft, eine Sprachkritik, die ausbricht aus den gepanzerten Sprachformeln, in denen die Bürokraten, aber vor allem die Medien unsere Wirklichkeit einzusperren suchen. 'Präzises Formulieren hat heilende Wirkung, es reinigt von den Manipulationen der Sprachschänder, man wird wieder Mensch'."

Gegen die Willkür wolle er schreiben, sagte der so geehrte Grossman, und das ohne jede Selbstgerechtigkeit. Die Tyrannei, unter der Menschen in ganz unterschiedlichen Systemen leiden, beschäftigen ihn in allen seinen Romanen, so auch in seinem bekanntesten aus dem Jahr 1986, der 1991 auf Deutsch erschien.

"Ich habe 'Stichwort: Liebe', einen Roman über die Shoah, geschrieben, um unter anderem genau auf diese Frage zu antworten: Wie hätte ich mich verhalten, wenn ich damals gelebt hätte? Hätte ich es gewagt - oder wäre ich überhaupt in der Lage gewesen - in diesem alle mitreißenden, gewalttätigen Strudel ich selbst zu bleiben? Natürlich habe ich mich zuerst gefragt, wie ich mich als Jude verhalten hätte. Als einer, dem alles, was ihm teuer war, genommen wurde, und der selbst schon zur Vernichtung bestimmt war. Wie hätte ich versucht - und hätte ich die Kraft dazu gehabt, meine Selbstständigkeit zu behalten, den menschlichen Funken in mir zu bewahren, in einer Situation, die ganz und gar darauf angelegt war, mich vom Antlitz der Erde und aus dem Bewusstsein überhaupt auszulöschen?

Doch noch eine andere Frage beschäftigte mich beim Schreiben von 'Stichwort: Liebe'. Wenn ich in jener Zeit Deutscher gewesen wäre, wäre ich in der Lage gewesen, gegenüber dieser Welle, die beinahe das ganze deutsche Volk erfasste, standhaft zu bleiben? Hätte ich in mir Antikörper gegen das gewalttätige, rassistische, nationalistische Fieber gefunden, das eine ganze Nation befallen hatte?"

Grossman beschäftigt die Vergangenheit ebenso wie die Gegenwart. "Schreiben im Katastrophengebiet" hat Grossman einen seiner Essays genannt. Darin geht es um das Leben als Schriftsteller "in der extremen, brutalen Realität eines politischen, militärischen und religiösen Konflikts" - des Israel-Palästina-Konflikts. Der Schriftsteller Grossman meint, er sei, wie jeder Israeli, ein "Gefangener", eine Geisel dieses gewaltsamen Konflikts. Grossman, dessen Sohn Uri im Zweiten Libanonkrieg als Soldat starb, ist kein Pazifist. Aber er gibt die Hoffnung auf einen Frieden, auf eine Zweistaatenlösung nicht auf.

Grossman: "The prospects of peace in Israel ... Eine schwierige Frage. Sie wissen, wir haben bald Wahlen. Die Palästinenser haben bald Wahlen. Die Palästinenser sind gespalten in zwei einander bekämpfende Fraktionen, so dass es momentan unmöglich ist, einen dauerhaften Frieden zu etablieren. Zunächst sollte es wohl einen Versöhnungsprozess innerhalb des zerstrittenen palästinensischen Lagers geben. Ich weiß nicht, ob wir dem Frieden nah oder fern sind.

Aber ich weiß, dass die Gedanken, die ich und meine Schriftstellerkollege Amos Oz und Abraham B. Jehoshua vor 25 Jahren äußerten und für die wir damals fast als Verräter der israelischen Sache gebrandmarkt wurden, dass diese Gedanken heute in aller Munde sind, auch Ministerpräsidenten äußern sie, Ehud Olmert oder Tzipi Livni. Das ist es auch, was Intellektuelle, was Autoren bewirken, was sie erreichen können: Sie können Alternativen aufzeigen, allein schon dadurch, dass sie Geschichten aus mehreren Perspektiven erzählen. So kommt man zu unterschiedlichen Sichtweisen ein und derselben Sache. Das befreit, man ist nicht länger ohnmächtig einer scheinbar unwandelbaren Situation ausgeliefert."