Emanzipation und Feminismus

Gleichberechtigung - nicht nur Frauensache

Mit Plakaten und in historischen Gewändern erinnern Frauen der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) an die Wahlrechtsdemonstrationen der Suffragetten vor 100 Jahren.
Der Feminismus hat eine lange Geschichte: Hier erinnerin Frauen der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) in historischen Gewändern an die Suffragetten vor 100 Jahren © picture alliance / dpa / Ralf Hirschberger
Von Florian Goldberg · 24.04.2017
Es gibt kein Übel, an dem der Feminismus nicht schuld ist. So sehen das zumindest dessen Kritiker. Das Gegenteil ist richtig: Gleichberechtigung zielt auf eine menschenfreundliche Kultur - und davon profitieren auch die Männer.
Meine Großtante mütterlicherseits wurde von ihrem Vater zwangsverheiratet. Sie war keine 20. Der Ehegatte, ein Geschäftsfreund meines Urgroßvaters, 30 Jahre älter. Ein reicher, rücksichtsloser Kerl, der die junge Frau nach allen Regeln der Kunst seinem Willen unterwarf. Ort der Handlung: nicht etwa ein fernes Kaff im Wüstensand, sondern Berlin. 1917. Arrangierte Ehen waren damals noch recht verbreitet.
Nach einigen Jahren voller Demütigungen und sexueller Gewalt nahm meine Großtante Reißaus, wofür sie von der Familie geächtet wurde. Zuflucht fand sie bei einem jungen Musiker, der sie als Seelenfreundin liebte, sonst aber in Ruhe ließ. Er war schwul. Ihr kam das gelegen. Von männlichen Heteros hatte sie genug. Ihrem Freund wiederum bot die Frau an seiner Seite einen gewissen Schutz vor beruflicher Diskriminierung und strafrechtlicher Verfolgung. Die beiden blieben über ein halbes Jahrhundert zusammen. Bis zu ihrem Tod. Die Brutalität der Nazi-Herrschaft überdauerten sie ebenso wie die Bigotterie der westdeutschen Nachkriegszeit. Bevor sie starben, nahmen sie regen Anteil an den emanzipatorischen Aufbrüchen der späten 60er und der 70er Jahre, ohne deren Früchte noch selbst genießen zu können.

Ist der Feminismus Schuld an männlicher Gewalt?

Es ist nicht lange her, seit unsere Gesellschaft damit begonnen hat, sich ernsthaft für Fragen der Gleichberechtigung und der sexuellen Identität zu öffnen. Hochmut gegenüber anderen, vermeintlich weniger fortschrittlichen Kulturen können wir uns schon mal schenken. Zumal unsere kurze Emanzipationsgeschichte noch immer auf Widerstand stößt. Vor allem von männlicher Seite. Der feministische Diskurs, stand neulich zu lesen, habe zu einer bedenklichen Um- und Abwertung zentraler männlicher Tugenden geführt. Was früher Mut hieß, werde inzwischen als Aggressivität diffamiert, Leistungswille als Karrierismus, Autonomie als Unfähigkeit zur Nähe. Die Folge sei eine Krise der Männlichkeit, die allerlei unerfreuliche Phänomene von vermehrter Jugendgewalt, religiösem Fanatismus bis hin zum Erstarken des Populismus nach sich ziehe. Tatsächlich? Der Feminismus schuld an Schulhofschlägereien, Marine le Pen und dem IS? Das wäre mal ein lustiges Beispiel für Wirkungsmacht!
Dabei will ich die beschworene Krise der Männlichkeit gar nicht in Abrede stellen. Wahrscheinlich gibt es sie sogar. Nur wäre sie dann nicht das Symptom einer Krankheit, sondern der Gesundung. Krank war vielmehr die selbstverständliche Dominanz nicht nur des männlichen Geschlechts, sondern auch bestimmter Vorstellungen davon, was das bedeutet. Vorstellungen, die übrigens auch viele Frauen übernahmen, wenn sie in der Männerwelt reüssierten. Um die drei Beispiele von eben etwas abzuwandeln, galten Aggressivität als Mut, Rücksichtslosigkeit als Durchsetzungskraft und die Unfähigkeit zum Dialog als Autonomie. Die Folgen davon sind in der Geschichte ebenso ablesbar wie in der aktuellen Weltpolitik.

Geschlechtergerechtigkeit als menschenfreundliche Kultur

Ich empfinde es als Privileg, in einer Gesellschaft zu leben, in der die klassischen Rollenmuster als die für alle gültige Norm ausgedient haben. Als Glück, auf starke, gut ausgebildete Frauen zu treffen, die selbst bestimmen, wie und mit wem sie leben wollen. Als befreiend, in der Begegnung mit homosexuellen Freunden Aspekte meiner selbst zu entdecken, die ein heterosexueller Mann früher hätte leugnen müssen. Dass mein Selbst- und Weltverständnis dabei auch schmerzhafte Transformationen durchläuft, gehört dazu. Es hilft mir zu wachsen.
Wenn also Rollen- wie Geschlechtsidentitäten ins Rutschen geraten sind, ist das kein Zeichen der Dekadenz, sondern einer Kultur, die sich zu einer neuen Blüte aufschwingt. Einer friedlichen, menschenfreundlichen Kultur, die uns ermutigt, uns selbst zu entdecken und zu sein. Zumindest ist das die Wahl, die wir treffen können.

Florian Goldberg hat in Tübingen und Köln Philosophie, Germanistik und Anglistik studiert und lebt als freier Autor, Coach und philosophischer Berater für Menschen aus Wirtschaft, Politik und Medien in Berlin. Er hat Essays, Hörspiele und mehrere Bücher veröffentlicht. Für Deutschlandradio Kultur hat er zahlreiche politische Feuilletons verfasst.

Florian Goldberg
© Hernando Tascon
Mehr zum Thema