EM-Spiel Deutschland-Italien

Auch Nietzsche hätte Spaß

Der Philosoph Martin Gessmann
Der Philosoph Martin Gessmann widmet sich Betrachtungen seiner Disziplin mit Blick auf den Fußball © Felicitas von Lutzau
Martin Gessmann im Gespräch mit Ute Welty  · 02.07.2016
Der hohen Philosophie des Fußballs widmet sich der Philosophieprofessor Martin Gessmann. Er ist sehr gespannt auf das Spiel Deutschland gegen Italien und glaubt an die Intelligenz des Mannschaftssports.
Auch der Philosoph Friedrich Nietzsche hätte am heutigen Spiel Deutschland gegen Italien seine Freude, sagte Martin Gessmann, Professor für Philosophie an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach im Deutschlandradio Kultur. Vor allem der italienische Trainer Antonio Conte hätte es ihm angetan. "Der schafft es einfach, den Spielern die Finger über Nacht in die Steckdose zu stecken", sagte Gessmann. "Die kommen auf den Platz wie aufgeladen." Der Auftritt der Italiener gegen Spanien sei erstaunlich voller Energie gewesen. "Und sie hatten damit Erfolg." Gessmann erinnerte daran, dass man der Mannschaft zunächst nachgesagt habe, sie sei nur Durchschnitt und nicht überragend. "Plötzlich merkt man, also mit dem Nietzscheschen System der Vorstellung, dass man nur genug Energie hineinladen muss, dann wird irgendwas draus und am Ende, wenn es ganz gut geht, sogar Kunst." Da habe sich Trainer Conte etwas abgeschaut.

Die Stars waren gestern

Fußball sei inzwischen ein intelligenter Mannschaftsport geworden, sagte Gessmann. "Man spricht von System, von Taktiken und davon, wie Mannschaften smart und geschlossen auftreten." Das habe man bei den Isländern sehen können und Freitag bei Wales. "Das zahlt sich aus", sagte er. "Die Stars und das System um die Stars und die Mythen und die Sagen, das war gestern." Heute gewinne, wer am besten zusammen arbeite. Die Philosophen Jean-Jacques Rousseau und Thomas Hobbes hätten in ihrer Gesellschaftstheorie dafür die Muster vorgegeben. "Man muss nur noch gucken, was macht das im Fußball."

Das Interview im Wortlaut:

Ute Welty: "Grau is alle Theorie, entscheidend is auf'm Platz." Dieser legendäre Satz von Alfred "Adi" Preißler gehört zu den Grundphilosophien des Fußballs, wobei sich seit den großen Zeiten Preißlers in den 50er-Jahren doch einiges geändert hat. Erst war Preißler ja höchst erfolgreicher Kapitän von Borussia Dortmund und dann bemerkenswerter Trainer unter anderem für Rot-Weiß Oberhausen. Spätestens Jürgen Klinsmann als Bundestrainer hat dann nicht mehr jeder unbedingt verstanden, und Martin Gessmann weiß noch ganz andere Parallelen zwischen Fußball und Philosophie nach, und das ist nicht der Anfangsbuchstabe V. Martin Gessmann lehrt Kultur- und Techniktheorien und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main, und er ist Autor des Buchs "Mit Nietzsche im Stadion". Guten Morgen, Herr Gessmann!
Martin Gessmann: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Was hält Nietzsche denn von dieser recht aufgeladenen Partie heute Abend, von Deutschland gegen Italien?
Gessmann: Wir wissen ja noch nicht genau, wie die werden wird, aber ich glaube, er hätte seine Freude dran, vor allem an dem italienischen Trainer Antonio Conte. Der macht was ganz Ähnliches wie sein Kollege in Madrid kürzlich, also von Atlético Madrid. Der schafft es einfach, wenn ich das so sagen darf, den Spielern die Finger über Nacht in die Steckdose zu stecken. Also die gehen auf den Platz wie aufgeladen.
Welty: Ist das von den Menschenrechten her abgesichert!
Gessmann: Vermutlich ist beim Fußball irgendwann alles egal, und da wären das nur Kleinigkeiten. Aber es ist schon erstaunlich, wie die Italiener das letzte Mal aufgetreten sind gegen Spanien, also voller Energie, geladen, in einer Weise aufgeladen, wie man sie sonst nie erlebt hat. Und sie hatten damit Erfolg.
Welty: Die Mannschaft ist ja auch nicht mehr allzu jung.
Gessmann: Absolut, ja. Aber umso erstaunlicher ist es. Und man sagte ja auch der Mannschaft früher nach, das sei im Grunde nur Durchschnitt. Guter Durchschnitt zwar, vielleicht auch sehr guter Durchschnitt, aber nicht überragend. Und plötzlich merkt man also mit dem Nietzscheschen System der Vorstellung, dass man nur genug Energie reinladen muss, dann wird irgendwas draus, und am Ende, wenn es ganz gut geht, sogar Kunst. Da hat der sich was abgeschaut.

Mit Hobbes und Rousseau im Stadion

Welty: Jetzt waren Sie ja nicht nur mit Nietzsche im Stadion, sondern auch mit Hobbes und Rousseau. Das macht dann ja quasi schon einen philosophischen Fanblock aus. Was haben diese Denker dazu beigetragen, den Fußball zu dem zu machen, was er heute ist?
Gessmann: Ich glaube, sie haben viel dazu beigetragen – sie wussten das natürlich noch nicht, aber sie haben, wenn man so will, dem Fußball schon mal eine Karotte vor die Nase gesteckt, der er nachlaufen kann und irgendwann erreichen. Man hat gemerkt, in den vergangenen Jahren ganz besonders, dass Fußball nicht nur intelligent geworden ist, sondern auch ein sehr intelligenter Mannschaftssport. Man spricht von Systemen, von Taktiken und davon, wie Mannschaften smart auftreten und geschlossen auftreten.
Und wir haben es gesehen an den Isländern und gestern Abend bei Wales, das zahlt sich aus. Die Stars und das System um die Stars und die Mythen und die Sagen, das war gestern. Heute ist es so, dass gewinnt, wer am besten kooperiert und zusammenarbeitet. Und da kann man eben – jetzt komme ich wieder auf die Philosophie –, da kann man auch Modelle ausmachen, Art und Weise feststellen, wie das geht. Und Rousseau und Hobbes haben da, glaube ich, schon die Muster gegeben in der Gesellschaftstheorie, und man muss nur noch gucken, was macht das im Fußball.

Angstgegner als Erfindung der Medien

Welty: Heute Abend geht es, wie gesagt, gegen Italien. Und wer "Italien" sagt, der muss auch "deutscher Angstgegner" sagen. Haben Sie die Angst, dass wir es hier mit einer Self-Fulfilling Prophecy zu tun haben, dass wir die Niederlage herbeireden?
Gessmann: Ja, so scheint es fast. Gestern Abend sagte schon der große Philosoph Olli Kahn, er könne es nicht mehr hören, und deutete auch an, dass diese Debatte um den Angstgegner vielleicht eine Erfindung der Medien ist. Und je länger man in den Interviews die Spieler fragt, habt ihr denn Angst, und wie viel Angst habt ihr – irgendwann fangen die an, sie zu haben. Ich glaube aber trotzdem, die sind alle viel zu abgeklärt, und ich schätze auch mal, der Fußball ist viel zu aufgeklärt, als dass die das wirklich beeindruckt.
Welty: Sie sagen, der Fußball ist aufgeklärt. Wie viel Überbau verträgt so ein Sport, so ein Spiel überhaupt? Ist es nicht tatsächlich dann entscheidend, was auf dem Platz passiert? Wir erinnern uns an Jürgen Klinsmann, dessen Buddhas bei Bayern München ja nur begrenzt gut ankam.
Gessmann: Ja, unbedingt. Überbau ist frei nach Marx natürlich immer prekär und ruht auf den sozialen Tatsachen. Und es ist auch klar, wichtiger ist, was auf dem Platz passiert. Nur, die Deutung des Fußballs, und da haben ja auch die Kommentatoren ihren Beitrag dazu geleistet, die Deutung des Fußballs, also des Geschehens, was da wirklich geschieht, das ist schon aufschlussreich. Wem es gelingt, ein Spiel zu lesen und zu sehen, was haben die eigentlich für einen Plan, was wollen die denn, der ist immer einen Schritt voraus. Und da ist man dann natürlich nicht im Überbau und bei den Ideologien, sondern einfach, man guckt, wie geht es tatsächlich.

Joachim Löw wird defensiv anfangen

Welty: Mancher Fußballfan steht vielleicht auch mehr auf Vorbau denn auf Überbau. Was glauben Sie, was der aktuelle Bundestrainer, was Joachim Löw seinen Spielern heute Abend als Philosophie mit auf den Weg gibt?
Gessmann: Das ist interessant, das ist eine gute Frage, wahrscheinlich die Frage des Tages überhaupt. Ich rechne damit, dass die Italiener wieder so auftreten wie gegen Spanien, also energiegeladen und erstmal nach vorn stürmend. Und ich glaube, dass Joachim Löw klug genug ist, um zu sagen, hier halten wir erst mal die Reihen geschlossen. Also womöglich wird er ganz gegen sein Naturell defensiv anfangen, defensiv ordnen und dann versuchen, die Italiener mit den eigenen Waffen zu schlagen.
Welty: Ihr Wort in Nietzsches Gehörknöchelchen! Der Philosoph Martin Gessmann über das Spiel heute Abend gegen Italien. Haben Sie Dank für die Einschätzung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Martin Gessmann: Mit Nietzsche im Stadion. Der Fußball der Gesellschaft, Wilhelm Fink Verlag, 16,90 Euro.

Mehr zum Thema