Eltern-Kind-Verhältnis: "Himmel und Hölle"

Wenig Spaß, aber reichlich Lebenssinn

Der Schatten einer Familie, die sich an der Hand hält.
Eltern entwickeln sich von Beschützern zu Gefängniswärtern, konstatiert Jennifer Senior in "Himmel und Hölle" © picture alliance / dpa / M. C. Hurek
Von Susanne Billig · 11.02.2015
Die US-amerikanische Journalistin Jennifer Senior kommt in ihrer Analyse des Elterndaseins "Himmel und Hölle" zu dem Schluss: der Leidensdruck ist enorm. Das Buch hält Tabubrüche, Aha-Erlebnisse und überzeugende Thesen bereit - und sogar ein Happy End.
Eine wissenschaftliche Umfrage in den USA brachte es an den Tag: Mütter mögen es nicht besonders, Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Kochen, Fernsehen, Einkaufen, selbst Wäschewaschen und Hausarbeit sind ihnen sehr viel lieber.
In ihrem Buch "Himmel und Hölle" geht die US-amerikanische Journalistin Jennifer Senior der einfachen Frage nach, wie sich die Geburt und Erziehung von Kindern auf deren Eltern auswirken – verheerend. Schon der Schlafmangel der Säuglingszeit lässt junge Mütter in qualvoll-depressive Erschöpfungszustände fallen. Dazu kommen radikaler Autonomieverlust, Schuld- und Stressgefühle, anhaltende berufliche Nachteile und soziale Isolation. Später wird auch für Eltern die Schulzeit überschattet von Versagensängsten und Leistungsdruck, bis dann die Pubertät zum ultimativen Härtetest gerät.
Schwierige gesellschaftliche Umstände
Banalitäten sind von Jennifer Senior nicht zu hören, umfassend bezieht sie soziale und politische Fakten in ihre Überlegungen mit ein. Der Absturz der amerikanischen Mittelschicht, die Überschuldung der Privathaushalte, die permanente Beschleunigung gesellschaftlicher Abläufe und der fast vollständige Verlust funktionierender sozialer Netzwerke – all das trägt erheblich zum elterlichen Leidensdruck bei.
Auch das Gezerre um die Pubertät hat gesellschaftspolitische Ursachen, legt die Autorin dar: Für Jugendliche gibt es heute keine Möglichkeit, ihre Risikobereitschaft und ihre neuen Kräfte ernsthaft und gesellschaftlich nutzbringend auszuleben. Während es im 19. Jahrhundert als normal galt, dass 12-Jährige die Schule schmissen und als Matrosen anheuerten oder dass 16-Jährige von Fabrik zu Fabrik tingelten, um sich in den verschiedensten Berufen auszuprobieren, halten Schule, Sport und Freizeit heute nur künstliche Spielwiesen für Heranwachsende bereit. Notgedrungen entwickeln sich Eltern von Beschützern zu Gefängniswärtern ihrer pubertierenden Kinder, die – ähnlich wie Sektenmitglieder – aus dem System klaustrophobischer Totalüberwachung auszubrechen versuchen.
Tabubrüche und Aha-Erlebnisse
Ein aufrüttelndes, dicht geschriebenes Buch legt Jennifer Senior vor, das auf jeder Seite Tabubrüche, ungewöhnliche Perspektiven und Aha-Erlebnisse bereithält. Um mit Mythen und Zerrbildern des Eltern-Kind-Verhältnisses aufzuräumen, zitiert die Autorin zahllose wissenschaftliche Studien und formuliert immer wieder eigene, überzeugende Thesen. Nebenher stellt sie verschiedene Menschen vor und erzählt ihre Geschichten – Großmütter, die mit 75 noch einmal von vorn anfangen und ihre Enkel aufziehen, Alleinerziehende, die an tausend Fronten kämpfen und Väter, die sich in ihrem liberalen Erziehungsstil von ihren Ehefrauen diskriminiert fühlen.
Am Schluss findet das Buch sogar zu einem Happy End: Zwar gibt es mit Kindern wenig Spaß, erklärt die Autorin – dafür reichlich Lebenssinn und tief empfundene Freude. Im höheren Alter geben sich die meisten Eltern dann einer wohltuenden Uminterpretation hin. Sie verklären die alten Zeiten und meinen zu wissen: Nichts im Leben hat sie je glücklicher gemacht, als Kinder in die Welt zu setzen.

Jennifer Senior: Himmel und Hölle - Das Dilemma moderner Elternschaft
Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller
Kein & Aber Verlag, Zürich 2014
352 Seiten, 22,90 Euro

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