Elisabeth Asbrink: "1947. Als die Gegenwart begann"

Die Zeit ist ein Monster

Buchcover "1947" von Elisabeth Asbrink, im Hintergrund Mannequins bei einer Dior-Modenschau in Paris.
Buchcover "1947" von Elisabeth Asbrink, im Hintergrund Mannequins bei einer Dior-Modenschau in Paris. © Arche Literatur Verlag / imago / United Archives International
Von Carsten Hueck · 01.04.2017
Von Dior bis CIA: In "1947" stellt Elisabeth Asbrink den Verlauf eines Jahres dar. Die schwedische Autorin kombiniert Weltbewegendes mit Nebensächlichem und erzeugt so eine dichte Atmosphäre. Ein lehrreiches Buch, das überraschende Zusammenhänge zeigt.
Am Ende des Buches, nach 250 Seiten, Danksagung, Literatur-und Quellenangaben, stehen mitten im Weiß zwei kurze Sätze von William Faulkner: "The past is never dead. It's not even past."
Die Aussage klingt an dieser Stelle wie eine Drohung. Sie löst einen Schock aus, vergleichbar dem am Ende eines Films, wenn nach dem Abspann das zur Strecke gebrachte Monster in einer kurzen Einstellung plötzlich die Hand aus der Erde streckt.
In Elisabeth Asbrinks poetischer Geschichtserkundung "1947" ist die Zeit ein Monster. Sie kommt asymmetrisch daher, offenbart ein irritierendes Nebeneinander von Gut und Böse, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Christian Dior und Michail Kalaschnikow machen sich 1947 mit ihren Produkten einen Namen, George Orwell schreibt auf einer einsamen Hebriden Insel "1984", Nelly Sachs debütiert im Alter von 56 Jahren als Dichterin, Grace Hopper entwickelt eine Computer-Programmiersprache, die Schallmauer wird durchbrochen, die CIA gegründet.
Formal lehnt sich die schwedische Autorin an Florian Illies' Buch "1913" an: Anhand historischer Ereignisse und persönlicher Geschichten wird der Verlauf eines einzigen Jahres dargestellt.

Wechsel zwischen Totale und Close-up

Durch Auswahl und Montage der gesammelten Ereignisse, den ständigen Wechsel von Totale und Close-up, scheinbar Nebensächlichen und Weltbewegendem, erzeugt Asbrink eine ungemein dichte Atmosphäre und lenkt den Blick auf überraschende Zusammenhänge, die man beim bloßen Nachsinnen darüber, was denn 1947 so alles passiert ist, nicht entdeckt hätte.
Die Motivfelder, auf die die Autorin im Laufe ihrer Jahreserkundung immer wieder zurückkommt, sind uns gegenwärtig: Das Nebeneinander von Rassismus, Antisemitismus, ideologischer Verhärtung, religiös motivierter Gewalt, Flucht und Vertreibung. Asbrink beschreibt das Zurückliegende mit dem unbestechlichen Blick der Historikerin. Dabei erklärt sich, was uns gerade widerfährt. Doch ist Asbrink nicht nüchtern, spürbar auf jeder Seite ist ein zutiefst persönliches Anliegen, das die Autorin antreibt.
"Nicht die Zeit soll zusammengehalten werden, sondern ich, und die zersplitterte Trauer, die wächst und wächst. Die Trauer über die Gewalt, die Scham über die Gewalt, die Trauer über die Scham."

Ihrer Zeit eine neue Richtung geben

Asbrink berichtet von Einzelnen auch, die 1947 versuchen, ihrer Zeit eine neue Richtung zu geben: Von der britischen Regierung, die Indien in Unabhängigkeit und Zweistaatlichkeit entlässt. Von den Aktivitäten Hassan al-Bannas, Gründer der Muslimbruderschaft, der von vornherein einen jüdischen Staat in Palästina verhindern will. Von den Flüchtlingen und Überlebenden des Holocaust, die als Passagiere der "Exodus" ein neues Leben ansteuern.
Vom schwedischen Faschisten Per Engdahl, der untergetauchten Nazis Arbeit verschafft oder ihnen bei der Flucht nach Südamerika behilflich ist. Und auch von Eleanor Roosevelt, die für die UN die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" ausarbeitet. Oder vom polnischen Juristen Raphael Lemkin, der alles dafür unternahm, um den Begriff "Völkermord" durchzusetzen.
Ein lehrreiches und persönliches Buch, eine poetische Reise in die Vergangenheit, bei der man in der Gegenwart ankommt.

Elisabeth Asbrink: "1947. Als die Gegenwart begann"
Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder,
Arche Literatur Verlag, Zürich/Hamburg 2017
251 Seiten, 22 Euro

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