Elger Esser: "Combray"

Sehnsuchtsorte à la Proust

Montmorillon. Foto entstammt dem Bildband "Combray" von Elger Esser, erschienen bei Schirmer/Mosel München.
Montmorillon. Foto entstammt dem Bildband "Combray" von Elger Esser, erschienen bei Schirmer/Mosel München. © © Elger Esser / courtesy Schirmer/Mosel
Von Edelgard Abenstein · 19.05.2016
Combray – das war der fiktive Kindheitsort des Erzählers in Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Fotograf Elger Esser geht ähnlich vor wie Proust, indem er Fotos verschiedener französischer Dörfer als Abbild eines Ortes zusammensetzt.
Stille Tage in Combray: Hören Proust-Kenner diesen Titel, denken sie sofort an den Ort, in dem die "Suche nach der verlorenen Zeit" ihren Anfang nimmt. Dort hat Prousts Erzähler seine Kindheitssommer verbracht, dort war er glücklich. In Wirklichkeit aber gibt es Combray gar nicht. Proust hat verschiedene Orte, darunter sein Feriendorf Illiers, zu dieser Fiktion verdichtet.
Genauso verfährt der Fotokünstler Elger Esser. Aus Ansichten von mehr als hundert entlegenen Orten in der französischen Provinz setzt er sein Combray zusammen: Klosterruinen und verwilderte Flussläufe, gestrandete Schiffe, Feldsteinbrücken, die in wegloses Dickicht führen, verlassene Gehöfte, ungepflasterte Dorfstraßen, bemooste Gemäuer.

Orte ohne Autos

Es sind Orte ohne Autos, Hochspannungsleitungen, Windräder. Die Requisiten der Zivilisation sind wie weggepustet, kein Müll nirgends; alles ist aufgeräumt, als wäre es aus der Zeit gefallen. Die Aufnahmen sind in monochromen Tönen gehalten, wie man sie aus den Anfängen der Fotografie kennt, ohne Hell-Dunkel-Kontraste, ohne Lichtdramen am Himmel. Menschen fehlen vollkommen.
Dass der 1967 geborene Absolvent der Düsseldorfer Becher-Schule sich den Schöpfer der "Recherche" zum Inspirationsquell seiner Fotografien wählte, kommt nicht von ungefähr. Wahrnehmung und Erinnerung heißen die großen Themen Prousts. Im vielhundertseitigen Roman-Universum steht Combray für die Trauer schlechthin, über die verlorene Zeit und darüber, dass die Suche nach jener Lebensepoche nie aufhört.
Zugleich steht es für den Trost, den die vergegenwärtigende Erinnerung spendet. Auch Esser vergegenwärtigt das Vergangene, indem er menschliche Hinterlassenschaften zeigt, die dem Verfall, dem Vergessen preisgegeben sind. Häuser, die Geschichten erzählen, in denen gelebt, gearbeitet, gebetet wurde.
Über den meisten Bildern liegt eine surreale Atmosphäre, so magisch, als hätte de Chirico sie gemalt. Oder der Stimmung ähnelnd, die Prousts schier endlose, sich verzweigende Satzgebilde hervorrufen, in denen man sich tranceartig lesend schon mal verlieren kann.
Dabei ist Esser wie sein literarisches Vorbild ein perfekter Handwerker; er fotografiert analog, nutzt alte Techniken wie das heute fast ausgestorbene Druckverfahren der Heliogravüre, das echte Halbtöne darzustellen vermag. Seine Bilder unterscheiden sich von Grund auf von den Hochglanzprodukten der Fotoszene der Gegenwart.

Ein Zauber für den Betrachter

Wie Prousts Prosa versunkene Eindrücke heraufbeschwört, wie sie Klänge, Farben und Gerüche durch Wörter wiederbelebt, so bannen die Combray-Fotografien das Flüchtige für immer. Sie führen Sehnsuchtsorte vor Augen, deren Stille sich als ein Zauber auf den Betrachter legt. Da ist es nur konsequent, dass man unter den Aufnahmen des Bandes vergeblich ein Foto von Illiers sucht, jenem in der Nähe von Chartres gelegenen 3000-Seelen-Dorf, das dem erfundenen Combray als reale Vorlage diente.
Überhaupt muss man, um sich von der Schönheit der Esser-Bilder fesseln zu lassen, Proust nicht kennen. Aber sie machen große Lust, lesend in die Proust-Welt einzutauchen.

Elger Esser: "Combray"
Mit Texten von Kirsten Claudia Voigt und Bernd Stiegler
Schirmer/Mosel Verlag, München 2016
224 Seiten, 102 Tafeln, 68 Euro

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