Elektronische Bücher verändern das Lesen

Moderation: Dieter Kassel · 23.07.2008
Der Direktor der Universitäts-Bibliothek Leipzig, Ulrich Johannes Schneider, erwartet, dass sich die Lesekultur angesichts neuer elektronischer Bücher stark ausdifferenzieren wird. Dies bedeute nicht das Ende des gedruckten Buches. Aber für bestimmte Textsorten wie Enzyklopädien sei die elektronische Form auch die bessere. Möglicherweise entfachen die neuen Geräte auch eine neue Lust am Lesen, glaubt Schneider.
Dieter Kassel: Am Telefon begrüße ich dazu jetzt Professor Ulrich Johannes Schneider. Er ist der Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig. Guten Morgen, Herr Schneider!

Ulrich Johannes Schneider: Guten Morgen!

Kassel: Nach all dem, was Sie über den "Kindle" bisher wissen, hätten Sie gerne einen?

Schneider: Ja. Ich fahre im August in die USA und werde mir einen besorgen. Vielleicht aber auch einen Sony-Reader. Das ist ein analoges Gerät von einer anderen Firma.

Kassel: Warum scheinen sich diese beiden Geräte, vor allen Dingen aber der "Kindle", jetzt durchzusetzen, während ja andere E-Book-Versuche, die es schon seit vielen Jahren gibt, im Grunde genommen völlig gescheitert sind?

Schneider: Ich glaube, dass der Bildschirm in seiner jetzigen Form eher unattraktiv ist für längere Texte. Also, man kann ihn zum Beispiel nicht überall lesen. Selbst mit dem Laptop macht es in der Sonne Schwierigkeiten. Und diese Technik, also ein Bildschirmdisplay zu haben, ist eher abschreckend.

Kassel: Nun heißt es ja immer wieder, und das ist für mich sehr nachvollziehbar, dass, ob der Bildschirm nun funktioniert oder nicht, man ja doch dieses Haptische eines Buches nicht haben kann mit so einem Gerät. Sie blättern nicht die Seiten um, Sie können keine Zettel zwischendurch irgendwo rein tun. Braucht man das am Ende nicht?

Schneider: Doch. Das ist der Nachteil, den es weiterhin geben wird. Also, in der Tat, denke ich, ist die dreidimensionale Form des Buches, dass man da mit den Fingern mitten rein greifen kann, dass man sofort im Gefühl hat, wenn man auf Seite 30 ist, weiß man, ob es noch 300 Seiten sind, die folgen, oder 10. Also, diese Art zu navigieren, gleichzeitig mit den Händen, mit den Augen, mit dem Kopf, die ist nicht reproduzierbar in diesen elektronischen Geräten. Das Lesen ändert sich. Also, es wird dann weniger ein Blättern, sondern ein Scrollen, ein Rollen, wie es ja in der Zeit vor der Bucherfindung auch üblich war.

Kassel: Sie sind ja selber beteiligt gewesen an einem Projekt gemeinsam mit Microsoft Deutschland als Co-Organisator. Da ging es um, so hieß der Titel "Alte Texte in Neuen Medien". Mal abgesehen davon, was Sie gerade schon erzählt haben über den Bildschirm und die simplen technischen Probleme wie Lichteinfall und Ähnliches: Was muss denn alles passieren, damit es einem normalen Menschen, der eigentlich ein Buch oder zumindest eine ausgedruckte Seite gewöhnt ist, Spaß macht, mit so einem Gerät zu lesen?

Schneider: Also, es gibt verschiedene Wege, die neuen Techniken auch für die alteuropäische Lesekultur fruchtbar zu machen. Man muss sich ein bisschen umgewöhnen. Aber wie wir ausprobiert haben zum Beispiel, kann man alte Handschriften sehr schön auch quasi wie Filmbilder präsentieren. Man muss nicht das Blättern imitieren, man muss auf dem Bildschirm nicht sozusagen versuchen, ein Buch nachzumachen. Das hat einen guten Effekt, wenn man sehr gute Bilder hat, jetzt bei alten Handschriften, das ist natürlich vielleicht ein spezieller Fall, kann man die Sichtbarkeit also richtig dramatisch erhöhen, es macht dann richtig Spaß, da zuzugucken. Bei modernen Romanen, bei allem Gedruckten.

Sicher muss man auch unterscheiden, was für eine Literatur das ist, die man auf diesen Reader-Geräten oder bei "Kindle" liest. Da gibt es unterschiedliche Dinge und bestimmte Werke werden immer noch als Buch auch einen großen Markt haben. Aber für die große Masse des sozusagen Konsums von Texten ist das durchaus eine ernstzunehmende Alternative.

Kassel: Welche Werke werden denn auch als Buch noch einen großen Markt haben, auch in einer Welt, in der vielleicht der "Kindle" oder ähnliche Geräte wirklich sehr verbreitet ist.

Schneider: Na, ich denke, Werke, zu denen man eine intimere Beziehung aufbaut. Das ist ja dann so, dass man mit dem Buch in der Hand irgendwie quasi ein dialogisches Verhältnis aufbauen kann. Wenn man ein Gerät in der Hand hat, dass neben diesem Buch noch andere Bücher wiedergeben kann und sich insofern sozusagen als kalter, abstrakter Freund da präsentiert, der irgendwie beliebig ist, da wird das nicht so gehen. Ich kann auch nur spekulieren. Aber ich warne davor, zu denken, dass dieses Lesen unter der Bettdecke das einzige ist, was die Bücher retten wird. Man muss es einfach beobachten.

Unser Lesen ist sehr vielfältig. Und man darf nicht vorschnell annehmen, die Buchkultur hätte alle Bedürfnisse wunderbar befriedigt. Schon alleine dieses Rollen der Texte. Es gibt in der Literatur, in der Poesie, auch in der europäischen Kultur, gab es immer schon Texte, "Tristam Shandy" von Laurence Sterne zum Beispiel, die gar nicht sehr buchförmig waren, gar nicht sehr zum Blättern, sondern eher zum Durchrollen eingeladen haben. Und da war das Buch immer schon ein Notbehelf.

Die Wissensliteratur, die Enzyklopädien, auch da war das Buch ein Notbehelf. Das macht "Wikipedia" viel besser. Nicht, weil es vom Inhalt her so dramatisch viel besser ist, sondern weil es von der Navigationsform so viel besser ist, mit diesen Links. Und das ist aktueller. Also, man muss unterscheiden, was liest man, und da wird sich einfach eine differenziertere Kultur ausbilden, auch mit Geräten.

Kassel: Wird das auch Auswirkungen auf den Inhalt haben? Reden wir mal von Belletristik. Wird vielleicht mittelfristig, wenn ein Romanautor und auch sein Verleger, sein Verlag wissen, 90 Prozent unserer Leser lesen das Ganze auf einem solchen Gerät und nicht mehr auf dem Papier, wird das irgendwann Einfluss auf den Inhalt haben?

Schneider: Ich denke schon. Die Form bestimmt immer schon wesentlich mit den Inhalt. Und so wie es sehr buchförmige Inhalte gab in der Vergangenheit, wird es dann auch eher rollenförmigere, kursorischere Inhalte in der Zukunft geben. Ich wüsste nicht zu sagen, wie das genau aussieht. Ob es nur positive Effekte haben wird, wage ich auch zu bezweifeln. Denn sicher ist die Bildungskultur an so etwas wie Konzentration, Strukturierung, Überblick, also, angewiesen darauf, dass man so etwas lernt. Und da war das Buch auch ein ganz hervorragendes Medium.

Kassel: Nun heißt dieses Gerät "Kindle". Betreiben wir doch hier mal so ein bisschen Wortklauberei. Das heißt, wenn man es frei übersetzt, so frei ist das gar nicht, auch so etwas wie "entfachen", "anzünden", aber jetzt auch nicht nur im materiellen Sinne. Ich weiß nicht, ob die Leute, die sich diesen Ausdruck in Amerika ausgedacht haben, das so gemeint haben. Aber wenn wir das mal zu Ende denken, können Sie sich vorstellen, weil man denkt so leicht an Leser, die umsteigen vom gedruckten Buch auf so ein Gerät, können Sie sich vorstellen, dass jemand, der ein Bücherleser gar nicht ist, vielleicht durch so ein Gerät, das er sich eigentlich zum Lesen der "New York Times" kauft, irgendwann mal an einen Roman gerät und sogar dann das Lesen vielleicht auch von echten Büchern in ihm, um das zu zitieren, "entfacht" wird?

Schneider: Ja, das kann ich mir schon vorstellen. Also, Spielerei ist immer dabei, wenn neue Geräte auf den Markt kommen. Und Vieles kauft man sich auch mal, um so was auszuprobieren. Ich finde es auch ganz richtig, dass man damit vielleicht die Schwelle, die das Bücherlesen, das Betreten einer Bibliothek, einer Buchhandlung, ja immer noch impliziert, noch mal weiter senkt. Die Attraktivität von Texten und dass Texte produziert werden und dass wir es lieben sozusagen, uns in alternativen Welten zu verlieren und uns durch Texte entführen zu lassen, das ist ja dadurch nicht in Gefahr und vielleicht eher sogar wird das stärker angefacht, diese Lust am Lesen.

Kassel: Wenn man sieht, was MP3-Dateien und Geräte wie der "iPod" für die Musikbranche bedeutet haben, dann könnte man allerdings denken, dass durch den "Kindle" und ähnliche Geräte irgendwann mal die Verlage in Gefahr sind. Könnte das tatsächlich so kommen? Denn im Prinzip, es wird so noch nicht gemacht bei Amazon Amerika, aber im Prinzip kann man dann doch ein Buch schreiben und es irgendwie auf diese "Kindle"-Geräte kriegen ohne den Zwischenschritt mit einem Verlag.

Schneider: Ja. Also, das ist eine ganz ernste Entwicklung. Und meiner Ansicht nach müssen sich die Verlage wirklich umstellen, müssen eine elektronische Präsenz ihrer Texte parallel entwickeln, sonst verlieren sie Geschäfte. Wie diese Geschäfte zu machen sind, Geschäfte, die jetzt nicht nur böse sind, sondern die auch wichtig sind, weil Verlage sind Filter in unserer Kultur, sind Garantien für eine bestimmte Art von Qualität, insofern wäre es sehr schade, wenn Verlage in Gefahr gerieten. Allerdings müssen sie sich umstellen. Wenn die Leser andere Wege zum Text suchen und finden, müssen die Verlage da einfach mitgehen.

Kassel: Aber könnte es, was die Vielfalt angeht, man muss ja, und Sie tun das ja auch nicht, man hört es ja, man muss ja nicht immer so kulturpessimistisch sein, was die Vielfalt angeht, auch Vorteile haben. Auch wenn es sehr viele Verlage gibt in Deutschland, das ist nicht weltweit so. Wer keinen Verlag findet, kann es noch in einem Eigenverlag machen, aber kann eigentlich kein Buch herausbringen. In der Musik durch die MP3- und Internetgeschichten ist das längst nicht mehr so. Da braucht man keine Plattenfirma, um eine Platte zu machen. Bringt das nicht auch was für die Vielfalt, wenn irgendwann jeder sagen kann, ich schreibe ein Buch, stelle es in irgendein Netz und dann kann jeder es haben, der will?

Schneider: Ja, das ist ja jetzt schon zum Teil der Fall. Und das Internet ist ja auch voll mit Text- und Bildangeboten höchst unterschiedlicher Qualität. Das ist einfach ein neues Medium, ein neuer Markt, ein neues Meer an Buchstaben und Pixeln usw. Das wird immer sortiert werden müssen. Also, interessant ist diese Rede von zu viel Texten usw., die begleitet den Buchdruck von Anfang an. Immer hatten die Leute das Gefühl, die Menge ist nicht zu beherrschen. Und was sich darin ausdrückt, ist nicht eine wirklich objektive Beurteilung der Lage, sondern eher eine subjektive Schwierigkeit, den Überblick zu behalten. Der muss jetzt einfach auf neue Weise hergestellt werden, eben auch über das Internet. Da müssen sich auch Leute engagieren, auch Verleger. Also, das ist offen, wie das funktionieren wird.

Kassel: Es bleibt viel zu tun, egal ob der "Kindle" nun kommt oder nicht. Wobei ich denke, es ist eine Frage der Zeit, kommen wird er schon. Ulrich Johannes Schneider, Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig zu diesem Thema. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Schneider: Bitte.
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